Wenn das Glück dich erwählt
einer Hose, die er in der Eile nicht einmal richtig zugeknöpft hatte.
»Es ist so weit!«, rief Evangeline verzweifelt. »O Gott, Scully, tu etwas! Hilf ihr!«
Er packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie ein wenig, um sie zu beruhigen. »Hör auf, Eve. Du brauchst jetzt einen kühlen Kopf.«
»Hol Schnee«, wimmerte Evangeline, riss sich los von ihm und begann an den Decken zu zerren, unter denen ihre jetzt sehr stark schwitzende Tochter lag. »Hol Schnee herein!«
»Das funktioniert nicht noch einmal«, sagte Scully entnervend ruhig. Er ging an Evangeline vorbei, hob das Kind mitsamt dem Bettzeug auf die Arme und trug sie zum Kamin hinüber, wo er sie besser sehen konnte. Die Decke schleifte ihnen nach wie ein Brautschleier, und Hortense trippelte hinterher und versuchte, ihre Krallen in den Stoff zu schlagen. »Das Beste, was wir jetzt tun können, ist, sie warm und trocken zu halten. Sie braucht ein frisches Nachthemd, Eve.«
Evangeline lief zum Bett zurück und durchwühlte ihre Reisetruhe, fand aber nichts anderes mehr als ihre eigenen Blusen. Abigail, fiel ihr jetzt wieder ein, besaß nur zwei Nachthemden, und beide waren schon benutzt.
Sie wickelten das Kind in die Bluse und hüllten sie dann zur Sicherheit noch in eins von Scullys Winterhemden ein. Sie war wach, wenn auch vielleicht nicht ganz, und Evangeline setzte sich mit ihr ans Feuer, murmelte ihr beruhigende Worte zu und versuchte, sie dazu zu bringen, etwas von dem Wasser zu trinken, das Scully ihr gebracht hatte.
Allmählich, ganz allmählich, ließ das Fieber nach. Das Kind war danach sehr geschwächt, buchstäblich am Ende seiner Kräfte, und Evangeline wusste, dass Abigail nach wie vor in Lebensgefahr schwebte. Aber es bestand etwas mehr Hoffnung als zuvor, und daran klammerte sie sich jetzt, so wie Hortense sich an den Saum der Bettdecke geklammert hatte.
Als die Sonne aufging, saßen sie noch immer da. Abigail hatte Scullys letztes Hemd durchschwitzt und war jetzt in eine Decke und nichts anderes mehr eingewickelt. Sie trank Wasser, obwohl sie sich beklagte, dass das Schlucken schmerzte, und als sie endlich wieder einschlief, schlief sie richtig und verlor nicht nur das Bewusstsein, wie es vorher so oft der Fall gewesen war. Evangeline brachte sie zu Bett und verbrachte den Morgen mit Wäschewaschen, drapierte Hemden, Laken und kleine Nachthemden über die Stühle, den Tisch und sogar die Bettpfosten, da das Wetter draußen viel zu kalt war, um Wäsche zu trocknen. Die Hütte war bald darauf mit warmem, feuchtem Dampf erfüllt, der von den nassen Sachen aufstieg, aber seltsamerweise schien er Abigail das Atmen zu erleichtern. Als Evangeline es merkte, stellte sie einen Topf Wasser zum Verdampfen auf den Herd.
Scully hatte mehrere Zwiebeln aufgeschnitten und sie auf das Fensterbrett über dem Bett gelegt. Sie verbreiteten einen aufdringlichen Geruch, aber er hatte irgendwo gelesen, sagte er, dass sie ein gutes Mittel gegen Atmungsbeschwerden seien.
Abigail war blass und sehr geschwächt. Sie sprach nicht, lag nur matt und lustlos da, und ihre Augen blickten trübe. Sie erhob keinen Einspruch dagegen, im Bett bleiben zu müssen, Tag für Tag, und das beunruhigte Evangeline noch mehr als alles andere. Sie schien nicht einmal etwas dagegen zu haben, den Nachttopf zu benutzen, den sie normalerweise hasste. Wie Evangeline riskierte auch Abigail sonst lieber, auf dem Weg zum Klosetthäuschen Wölfen oder Indianern zu begegnen, als den Nachttopf zu benutzen.
Der November ging grau und trübe in den Dezember über, und die Zeit verstrich so langsam, dass Evangeline oftmals den Eindruck hatte, einen einzigen langen, öden Tag zu leben. Der Schnee gefror und glitzerte an seiner Oberfläche wie altes Glas. Scully kümmerte sich um das Vieh und jagte, während Evangeline kochte, beobachtete und betete und ihre Tochter nicht aus den Augen ließ.
Evangeline war sich stets der Tatsache bewusst, dass der Tag, an dem sie Big John Keating kennen lernen würde, mit jeder Minute näher rückte. Scully wollte noch am selben Tag die Ranch verlassen, um nie wieder zurückzukehren, und Evangeline wusste, dass er dann ihr Herz mitnehmen würde. Sie sprachen nie über Big Johns Rückkehr und erwähnten auch den Frühling nicht, aber die Gewissheit war da, bei allem, was sie sagten, und wenn sie schwiegen, war sie auch ein Teil der Stille. Big Johns Fotografie, die sie noch immer von ihrem erhöhten Platz auf dem Kaminsims anschaute, war wie eine
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