Wenn Das Leben Dir Eine Zitrone Gibt, Frag Nach Salz Und Tequila
Gegenüber war vor Schreck ganz blass um die Nase geworden, jedenfalls, soweit ich das im Schwarzlicht erkennen konnte. Statt die Flucht zu ergreifen, friemelte er nun umständlich erst seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und dann eine Visitenkarte aus der Brieftasche, die er Alexia vor die Nase hielt. Anschließend hob er zur weiteren Erklärung die monströse Kamera mit Objektiv und Blitzwürfel hoch, die an seiner Seite baumelte und die sowohl ich als auch Alexia bisher übersehen hatten.
Falls die Visitenkarte kein Fake war, hatte er nicht gelogen: Siegfried »Siggi« Gittel war vermutlich nicht gerade Peter Lindbergh oder Herb Ritts, aber offenbar Fotograf des Frankfurter Nachtlebens, der für alle einschlägigen Stadtmagazine die Bilder schoss. Das jedenfalls schloss ich messerscharf aus der Auftraggeberliste auf seiner Karte.
Mein blondes Köpfchen begann zu arbeiten. Ich dachte an die »Schnappschüsse« von Familienfeiern, auf denen ich meistens die Augen zuhatte, gerade herzhaft in ein Käseschnittchen biss oder – wenn ich denn mal zufällig in die Kamera grinste – den Betrachter mit roten Blitzlicht–Albino-Augen »bestach«. Schön war anders. Nein, endlich mal ein paar gute Fotos wären gar nicht schlecht und ein prima Geschenk für Oma zu Weihnachten!
»Managerin« Alexia genehmigte nach kurzer Diskussion widerstrebend die Aktion – unter der Bedingung, dass sie mich begleiten durfte. Außerdem musste mein Entdecker hoch und heilig versichern, die Finger von mir zu lassen und auf keinen Fall irgendwas in Richtung Nacktfotos zu veranstalten.
Zum »Shooting« ein paar Tage später ließ Alexia mich dann doch alleine ziehen. Aber es zeigte sich, dass ihre Sorge unberechtigt gewesen war. Siggi blieb in züchtiger Entfernung und ich ganz ordentlich angezogen. Und ich kam mir vor wie Cindy Crawford höchstpersönlich. Ich legte mich mächtig ins Zeug: Luftküsse, Schmollmund, Winke-Winke – ein Funkenmariechen war nix gegen mich. Wow, das machte ja richtig Spaß! Siggi knipste alles ohne großen Kommentar – aber er schien durchaus zufrieden zu sein. Ein paar Tage später hielt ich dann endlich stolz meine »Bezahlung« in der Hand: drei Sätze Abzüge. Einer war für Oma bestimmt, die anderen – mal schauen.
Mit den Prachtstücken in Hochglanz saß ich auf dem Weg nach Hause in der U-Bahn, ganz selbstverliebt in mein eigenes Antlitz versunken: Boah, näää, wat war ich schön.
»Darf ich mal sehen?« Ich zuckte erschrocken zusammen. Die Dame mittleren Alters (so kam sie mir jedenfalls vor, sie war wohl um die 30) mir gegenüber hatte einen richtig langen Hals bekommen und versuchte, um die Ecke einen Blick auf meine Bilder zu erhaschen.
Ich strahlte. Aber gerne doch! Jeder sollte sich an meinem wunderbaren Anblick erfreuen können! Nachdem die Frau ein paar Minuten meine Starfotos betrachtet hatte, sagte sie schließlich: »Weißt du, ich arbeite in einer Model-Agentur. Wenn du willst, schick uns die Bilder doch mal, da könnte man vielleicht was machen.«
Schon fuhr die U-Bahn in den nächsten Bahnhof ein, und sie stand auf. Doch bevor sie ausstieg, drückte sie mir noch schnell eine Visitenkarte in die Hand. Hey, die Nummer mit den Visitenkarten begann mir zu gefallen. Euphorie machte sich in mir breit. Wahnsinn! Das konnte doch kein Zufall sein! Vor meinem geistigen Auge sah ich mein Konterfei auf internationalen Titelbildern prangen und mich über Laufstege in Paris, Mailand und New York schweben, zusammen mit Claudia Schiffer, Naomi Campbell und Christy Turlington. Sonya Kraus, eben noch Mehmets hässliches Entlein, heute schon ein schöner Schwan. Jawohl! Jetzt zeigte ich es allen meinen Peinigern! Und von wegen »Fotos schicken« – das dauerte viel zu lang. Persönlich vorbeigehen war die Devise, da konnte ich mich schon mal ein bisschen an die Bewunderung gewöhnen, die mir bald weltweit zuteilwerden würde.
Bereits am nächsten Nachmittag stand ich mit leuchtenden Augen und voller Vorfreude auf meine in Kürze beginnende kometenhafte Modelkarriere in der Agentur und präsentierte mit stolzgeschwellter Brust meinen Fotoschatz. Mir gegenüber: die Bookerin der Agentur, die bereits in wenigen Minuten zu meiner wachsenden Fangemeinde zählen würde …
Mundwinkelgate
Aber was war das? Wo war die Begeisterung? Irgendwas lief hier schief. Die Dame guckte mich nur an, als sei nicht ein vierzehnjähriges Mädchen, sondern der Gerichtsvollzieher hereingeschneit. Dann
Weitere Kostenlose Bücher