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Wenn Das Leben Dir Eine Zitrone Gibt, Frag Nach Salz Und Tequila

Titel: Wenn Das Leben Dir Eine Zitrone Gibt, Frag Nach Salz Und Tequila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonya Kraus
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nur an meinen Tisch setzen konnte, bevor es »business as usual« hieß. Daraus wurde allerdings nichts. In den noch verbleibenden etwa neunundreißigeinhalb Minuten der ersten Stunde bekam ich bereits mehrere Zettelchen mit Smileys zugesteckt. Silke, meine Sitznachbarin, die temperamentstechnisch normalerweise kaum von einer Parkuhr zu unterscheiden war, ließ sich dazu hinreißen, mich aus dem Nichts so ungelenk mit eisenhartem Würgegriff zu umarmen, dass mir eine Minute lang die Luft wegblieb. Dabei schluchzte sie: »Es tut mir so leid«, als wollte sie sich um eine melodramatisch angelegte Rolle in der »Lindenstraße« bewerben, der einzigen zur Verfügung stehenden Vorabend-Soap der Mittachtziger.
    Peinlich berührt murmelte ich ein »Danke« und starrte danach angestrengt in mein Französischbuch.
    Silkes Gefühlsausbruch war allerdings erst der Aperitif. Kaum kündigte der Gong den Beginn der Fünf-Minuten-Pause an und unsere Französischlehrerin, Frau Müller-De Montessant, war im Flur verschwunden, stürzten sich die anderen auf mich wie ein ausgehungerter Killerbienenschwarm auf sein armes Opfer. Es gab kein Entrinnen! Um mich herum sah ich in einen Pulk betroffen lächelnder Gesichter. Die anderen Kinder, selbst die, von denen ich sicher war, dass sie mich bisher nicht einmal bemerkt hatten, drängten sich um mich herum, als sei Nena zur Autogrammstunde angerückt. Aber es wollte niemand ein Autogramm von mir haben. Nein, ich war ohne jede Vorwarnung im Streichelzoo gelandet!!! Die Attraktion war nicht etwa ein dickes Hausschwein oder ein niedliches Kaninchen. Nein, die Attraktion war ICH. Mir wurde über den Arm getätschelt, über den Rücken gestrichen oder an irgendwelche sonstigen leicht erreichbaren Körperstellen geklopft. Sämtliche Mitschüler hatten sich von kleinen Monstern in zuckersüße Schätzchen verwandelt. Selbst mein Erzfeind Mehmet stoppte seine Verbalangriffe, legte die psychologische Kriegsführung auf Eis und säuselte: »Das tut mir so leid mit deinem Papa!«
    Ich war ja auf das Schlimmste gefasst gewesen, aber was war das?
    Mir fiel kein anderer Ausweg ein, und ich sagte leise: »Ich muss mal aufs Klo«. Der Effekt war erstaunlich. Mein neu gewonnener Fanclub teilte sich auf meine Ansage hin lautlos wie das Rote Meer für Moses, und ich flüchtete in Richtung Gelobtes Land, in meinem Fall: das Stille Örtchen. Die Rettung! Hier verbarrikadierte ich mich bis zum nächsten Gongsignal. Mir wäre ja alles recht gewesen, bloß nicht dieses Interesse an meiner Situation. Ich wollte mich in Luft auflösen oder – wahlweise – alle anderen mittels eines gezielten Zauberspruchs in Dornröschenschlaf versetzen. Mitleid rangierte, wie ich gerade deutlich merkte, auf meiner persönlichen Abneigungshitliste ungefähr auf einer Höhe mit Spinnen, Besserwissern und Mathearbeiten.
    Aber es wurde auch in den kommenden Tagen nicht wirklich besser. Die Clique um unsere Meinungsführerin und Klassensprecherin Tanja, sonst eigentlich zu cool für diese Welt und bisher eigentlich überhaupt nicht mein Verein, rief mich in einem unerwarteten sozialen Anfall von Minderheiten-Integration auf dem Schulhof plötzlich zu sich. Wäre ja eigentlich eine prima Idee und längst überfällig gewesen, wenn das Sprachzentrum aller Beteiligten nicht sofort schockgefrostet gewesen wäre, sobald ich dabeistand. Schweigend mümmelten die sonstigen Wortführer am Pausenbrot und trauten sich höchstens, ein paar Bemerkungen übers Wetter und den Unterricht zu machen. Falls doch mal einer endlich locker drauflosquatschte, dauerte es nicht lange, bis er sich auf die Zunge biss: »Und dann war ich im Freibad mit meinem Pap... oh, äh, also, mit ein paar Leuten …« Es war grauenhaft. Konnten die Leute nicht bitte, bitte normal sein? So wie immer? Aber, das ließ sich nicht leugnen, es war ja nun mal nicht »wie immer«.
     
     
    Das Verhalten der anderen war aus heutiger Perspektive natürlich vollkommen normal. Ich war das erste und einzige Kind in der Klasse, das einen Elternteil verloren hatte – und Kinder mit elf haben keine Routine mit solchen Situationen. Meine Klassenkameraden versteckten unter dem eifrig gezeigten Mitgefühl schlicht und ergreifend Angst. Angst vor mir, dem Halbwaisen-Alien. Sie versuchten irgendwie damit umzugehen. Für mich galt hingegen: Ich hätte lieber allein in der äußersten Ecke des Schulhofes rumgestanden, als weiter wie das allerletzte Exemplar einer Tierart auf der Roten Liste

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