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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Augen, und Steine wirbeln davon, fliegende Steine stürzen in die Tiefen des Abgrunds, der sich vor ihm öffnet, als würde ein Film plötzlich auf Breitwandformat gezeigt. Achtung! Die Klippenkanten sind brüchig! Bleiben Sie auf den markierten Wegen! Und das, was unter seinem Rumpf und den zappelnden Beinen ist, verschwindet ebenfalls und fällt hinab – wie er selbst. Ein kurzer Augenblick der Schwerelosigkeit und der Panik, die ihn wie ein elektrischer Schlag durchzuckt, und dann der Aufprall auf dem Sims drei Meter unterhalb der Kante.
    Er landet auf der rechten Seite, auf den Rippen, die Luft bleibt ihm weg, der Rucksack ist verrutscht. Zunächst versteht er nicht, was passiert ist. Und dann? Dass er von der Klippe gestürzt ist, von der brüchigen Klippe, der felsigen, mit loser Erde bedeckten Klippe, aber nicht abgestürzt – das ist das Wort, das ihm einfällt und das er in keinem anderen Zusammenhang benutzen würde –, nicht tot. Zerschmettert auf den Felsen dort unten. Wo die vom Sturm aufgewühlte Brandung donnert und schäumt und aufstiebt. Für einen langen Augenblick ist er unfähig, sich zu rühren. Dann spannt er wie eine erwachende Katze nacheinander alle Muskeln an, macht sich wieder mit ihren Funktionen vertraut und denkt: Anise wird es nicht glauben und: Was ist, wenn ich gerettet werden muss? Wenn der Hubschrauber, der Hubschrauber des Park Service, der Hubschrauber der Giftmischer …?
    Das Sims, der Vorsprung aus vulkanischem, mit stacheligen xerophytischen Pflanzen bewachsenem Gestein, der seinen Sturz aufgehalten und ihn gerettet hat, ist nur eine von vielen Felsnasen, die aus der Wand ragen, als gälte es, eine Invasion abzuwehren. Er sieht es, er sieht, als er ganz vorsichtig das Gewicht verlagert, das Muster, das eigentlich gar kein Muster ist und sich in beiden Richtungen über die Wand zieht. Es dauert eine Weile – er ist zweiundvierzig und hat Bluthochdruck und einen stechenden Schmerz in der rechten Seite –, bis er es schafft, die Beine anzuziehen und sich Zentimeter für Zentimeter aufzurichten, so dass er schließlich dicht an den Fels geschmiegt dasteht. Er sieht die Stelle über ihm, wo die Erde nachgegeben hat, und entdeckt an der ihm zugewandten Seite ein Gestrüpp von Pflanzen. Es besteht hauptsächlich aus Dudleya , Sukkulenten, die sogleich brechen, sich aus der Erde lösen und ihn abstürzen lassen würden, aber da ist auch etwas mit einem holzigen Stamm, ein Ceanothus oder vielleicht eine Krüppeleiche, und dieser Stamm befindet sich in Reichweite. Er packt ihn. Rüttelt prüfend daran. Und dann presst er sich so fest an den Fels, dass er später Kieselsteine, Sand, Blätter und Zweige unter seinem Gürtel und dem elastischen Rand der Unterhose findet, und zieht sich hinauf, greift nach dem nächsten Zweig, während die Spitzen seiner Wanderschuhe nach einem Halt suchen. Zwanzig Sekunden später ist er oben, die Beine schaben über die lose Erde, der Rucksack zerrt an ihm, das Blut rauscht donnernd in seinen Ohren, und dann ist er in Sicherheit, kriecht auf allen vieren zehn, fünfzehn Meter weit durch das Gebüsch und bricht zusammen.
    Das nächste, an was er sich später erinnert: Er sieht auf die Uhr. Es ist verblüffend: Nur fünf Minuten sind vergangen. Fünf Minuten. Nicht eine Stunde, sondern nur fünf Minuten, dreihundert Sekunden, in denen er dem scheinbar sicheren Tod entronnen und wiederauferstanden ist. Er schwitzt, obwohl der Wind kalt ist, das T-Shirt unter dem Kapuzenshirt ist klatschnass. Auf dem rechten Handrücken hat er einen dunkelblauen Bluterguss. Seine Rippen schmerzen. Doch er steht auf, holt die Plastikwasserflasche hervor, drückt sich einen langen, zischenden Strahl von dem gefilterten Wasser in den Mund – Aqua vita aus dem Umkehrosmosetank, den er zu Hause installiert hat –, steckt die Flasche weg und setzt, während er mechanisch die Tabletten verstreut, seinen Weg auf dem Pfad fort. Er hat bereits entschieden, dass er niemandem, weder Anise noch Wilson oder Dr. Reiser, je erzählen wird, was geschehen ist. Oder beinahe geschehen wäre. Warum sollte er auch? Er kommt sich ohnehin wie ein Idiot vor, und während er sich dem Rhythmus – Greifen, Ausholen, Werfen – überlässt, denkt er unwillkürlich, dass er sich noch mehr wie ein Idiot gefühlt hätte, wenn er hätte gerettet werden müssen. Oder schlimmer noch: ein postumer Idiot, hingestreckt auf den Felsen mit zerschmettertem Schädel und verrenktem Körper, wie das Zwergmammut

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