Wenn das Schlachten vorbei ist
Büschen entlang der Straße lagen leere Flaschen, im Portal des Vordereingangs roch es nach Urin und Schlimmerem, und die blassen verputzten Wände waren dicht mit schwarzen Graffiti verschmiert.
Es war ein trauriger Zustand, fand er, es machte ihn ganz verrückt. All seine Gedanken waren auf das Geschäft ausgerichtet, er wollte Kunden anziehen und sein Angebot erweitern, und selbstverständlich spielte die Wahrnehmung der Kunden eine äußerst wichtige Rolle. Wer, und sei er der hartgesottenste Audiofreak, wollte sein schwer verdientes Geld in einem Laden ausgeben, der zwar hip war, aber gegenüber von einem Pennertreffpunkt lag? Das machte ihm Sorgen, er ließ sich auf Brüllduelle mit diversen Säufern und Versagern ein, er schrieb Briefe an den Bürgermeister, den Stadtrat, die Zeitung – »Können wir diese Stadt nicht aufräumen?« –, alles ohne nennenswerten Erfolg. Doch er hatte mehr Glück als andere. Er arbeitete schwer. Bot hervorragende Produkte zu vernünftigen Preisen an. Und weil er selbst ebenfalls ein Elektronikfreak war und sich auskannte, und weil seine Kunden das zu schätzen wussten, kamen sie immer wieder, und das Geschäft begann zu florieren. Noch immer kümmerte er sich nicht besonders um irgend etwas anderes. Er war beschäftigt. Er hatte zu tun.
Dann gab ihm die Studentin, die er eingestellt hatte, damit sie den Laden hütete, wenn er unterwegs war, um Geräte zu installieren, eines Nachmittags eine dünne Broschüre mit einem erdgrünen Titelblatt, auf dem das alte Hippie-Friedenszeichen prangte. Er war gerade zur Hintertür hereingekommen, nachdem er der Reklamation einer Frau in mittleren Jahren mit sonnengegerbter Haut nachgegangen war, die ihn beschimpft hatte, weil die Fernsteuerung des neuen Audiosystems, das er vor knapp einer Woche geliefert hatte, nicht funktionierte (nachdem er eine volle Dreiviertelstunde lang alle möglichen Fehlerquellen geprüft hatte, stellte sich heraus, dass sie die Fernbedienung verkehrt gehalten hatte). Er musterte die Broschüre angewidert. »Was soll das sein?« fragte er das Mädchen und wendete das Heft hin und her. »Ich hoffe, du hast nicht vor, diesen Mist hier zu verteilen, denn sonst –«
»Das ist kein Mist«, sagte sie, und ihre Stimme war so leise, dass es fast ein Flüstern war. »Und ich verteile es nicht an die Kunden, keine Sorge.« Sie hieß Melody Appelbaum – das fällt ihm plötzlich wieder ein, während er in der Zwischenwelt des Gerichtssaals sitzt, wo Sterling mit monotoner Stimme über irgend etwas spricht und der Richter aussieht, als würde er gleich einschlafen – und studierte an der UCSB. Sie zuckte die Schultern. »Ich dachte, Sie könnten es vielleicht bedeutsam finden.«
Bedeutsam . Er könnte es bedeutsam finden. Nicht nützlich oder augenöffnend oder revolutionär, sondern bedeutsam. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, steckte er die Broschüre in die hintere Tasche seiner Jeans, wo er sie, erst als er zu Bett ging, wieder entdeckte. Mäßig interessiert begann er zu lesen. Oben auf der ersten Seite stand, wegen des billigen Drucks etwas verschwommen, der Titel: Die Rechte der Tiere . Es folgte ein Zitat von Arthur Schopenhauer: »Die vermeinte Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, dass unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, dass es gegen Tiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Roheit und Barbarei des Okzidents. Umfassendes Mitleid ist die wahre Grundlage der Moral.« Ein Autor war nicht genannt, und abgesehen von einem Copyright-Symbol am Fuß der Seite gab es kein Impressum.
Er blätterte um zu einer Collage von Fotos, die wie die Blütenblätter einer schwarz-weißen Blume um ein Zentrum angeordnet waren. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was sie zeigten. Und als er es erkannte und begriff, durchfuhr ihn ein Gefühl des Ekels und der morbiden Faszination, wie damals, als er in der Junior High School gewesen war und in einer klaustrophobisch engen Lesekabine der Bibliothek Fotos von Überlebenden deutscher Konzentrationslager gesehen hatte. Doch diese Fotos hier zeigten keine Menschen, sondern die stummen, ausdruckslosen Gesichter von Rindern, Schweinen und Kälbern, von Hühnern, die vergeblich mit den Flügeln schlugen, während sie an einem Förderband hingen und dem Messer entgegenfuhren, das sie köpfen würde. Er betrachtete die Fotos genauer. Eines der Tiere, ein Schwein, das im Schlachthof an
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