Wenn der Eukalyptus blüh dorothea1t
hatte sie sich selbst schon öfter gestellt. Was war Liebe? Zweifellos liebte sie ihre Familie: ihre Mutter, ihre Geschwister. Ihren Vater hatte sie so geliebt, dass der Schmerz über seinen Tod kaum zu ertragen gewesen war. Hatte sie Miles geliebt? Rückblickend musste sie das eher verneinen. Es war ein kurzer Rausch gewesen, ein körperliches Vergnügen gepaart mit der prickelnden Erregung des Verbotenen.
Für Robert empfand sie tiefe Zuneigung und Hochachtung. Und auch die körperliche Seite ihrer Ehe mit ihm war durchaus zufriedenstellend. Das Gefühl, dass etwas fehlte, war erst in den letzten Wochen aufgekommen, zunächst schemenhaft, dann immer klarer.
» Ja, ich liebe ihn von Herzen«, sagte sie mit einer Entschiedenheit, die zu einem guten Teil darauf zurückging, dass sie auch sich selbst davon überzeugen wollte, dass es so war. » Er ist ein wunderbarer Ehemann, und er wird ein genauso wundervoller Vater sein, wenn wir erst einmal Kinder haben werden.«
Ian fuhr zusammen, als hätte sie ihm einen Faustschlag in den Magen versetzt. Dann drehte er sich unvermittelt um und stürmte davon. Dorothea sah ihm niedergeschlagen nach. Warum benahm Ian sich auf einmal dermaßen seltsam? Hatte sie das Falsche gesagt? Es war so verwirrend: Anfangs hatte sie sich einfach nur gefreut, einen alten Freund wiedergefunden zu haben, aber etwas zwischen ihnen hatte sich verändert. Er war nicht mehr der Junge, mit dem sie auf den Taurollen gesessen und Lesen und Schreiben geübt hatte. Die kameradschaftliche Vertrautheit von damals war einer merkwürdig zwiespältigen Haltung gewichen. Der neue Ian zog sie magisch an, und doch ließ etwas sie fast ängstlich vor ihm zurückscheuen. Vielleicht war es gut, dass er so wütend davongestürmt war. Seine Nähe beunruhigte sie mehr, als es sich gehörte.
» Was hast du nur zu ihm gesagt, dass er aus dem Haus gestürmt ist wie eine angestochene Sau?« August betrachtete sie mit brüderlicher Missbilligung. » Schade, ich hatte ihn gerade fragen wollen, ob er heute Nacht mitkommen möchte.«
» Mitkommen wohin?«, erkundigte sich Dorothea automatisch, ohne nachzudenken. August errötete deutlich sichtbar. » Ach, nur in so ein neues Etablissement«, wiegelte er dermaßen offensichtlich ab, dass Dorothea argwöhnisch wurde. » Was für ein Etablissement?«
» Eines mit künstlerischen Darbietungen«, sagte er. » Und du brauchst mich gar nicht so anzuschauen, als wäre ich eine Kakerlake. Männer haben nun einmal andere Bedürfnisse als Frauen. Als Ehefrau solltest du das wissen.«
» Ist dieses Etablissement mit den künstlerischen Darbietungen etwa ein Bordell?«, fragte Dorothea, wobei sie die künstlerischen Darbietungen verächtlich betonte.
» Hast du etwas dagegen?«, gab August trotzig zurück. » Ist ja wohl besser, als Dienstmädchen schwängern, und Rathbone schien mir genau der Mann zu sein, der einen original orientalischen Schleiertanz zu würdigen weiß.«
Würde er das? Ihr Bruder war ebenfalls ein Mann. Vielleicht konnte er das besser beurteilen. Waren Männer wirklich so anders?
» Du weißt ja, wo er logiert«, sagte sie in neutralem Ton und wandte sich ab, um ins Haus zu gehen.
Dr. Woodfordes Zuversicht in Heathers Konstitution erwies sich als berechtigt: Ihre Genesung machte rasante Fortschritte. Zwei Tage nach dem Stich war sie so munter wie vorher, und es wurde zunehmend schwieriger, das Mädchen, das daran gewöhnt war, frei herumzustreifen, zu beschäftigen. Mutter Schumann schlug vor, die neue Leihbücherei aufzusuchen. » Dort gibt es sicher passende Lektüre«, meinte sie. » Außerdem habe ich gehört, dass es dort auch verschiedene Spiele zum Ausleihen geben soll.«
Dorothea, die bisher nur den Lesesaal der Literarischen Gesellschaft gekannt hatte, war angenehm überrascht. Die Bezeichnung Lesesaal war ziemlich euphemistisch– er enthielt außer einigen Sesseln nur zwei Vitrinen mit gespendeten Büchern, die ihren Vorbesitzern wohl nicht zugesagt hatten.
Die Leihbücherei Gibson dagegen wirkte äußerst geschäftig. An einer Theke aus hellem Eichenholz empfing sie eine ältere Dame mit schwarzen, fingerlosen Spitzenhandschuhen und erklärte ihnen, dass man sich zuerst einschreiben und einen Jahresbeitrag zahlen musste. Danach durfte man in die Räume dahinter, in denen lange Regale voller Bücher auf Leser warteten. » Einen Monat Leihfrist, Überschreitung kostet einen Shilling«, leierte sie mit ausdrucksloser Stimme herunter. » Hier ist
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