Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
über ihr Gesicht, als hätte er sie noch nie gesehen. Wie Adam, der zum ersten Mal Eva erblickt, starrte er sie an wie irgendein fremdartiges Wesen. Eine Offenbarung. Oder ein Fluch. Etwas, vor dem er Angst haben sollte. Weil es ihn vernichten könnte.
„Was wollen Sie von mir?“, brachte er mit vor Verwirrung und anderen, undefinierbaren Emotionen zusammengepressten Zähnen mühsam hervor, seine Finger verkrampften sich ein bisschen in ihrem Haar. „Wie zum Teufel konnte das nur passieren?“
„Ich … ich weiß es auch nicht.“ Während Molly dieses Geständnis aus ihrer ausgedörrten Kehle stieß, spürte sie am ganzen Körper kleine Nadelstiche. Hinter den Augen, in den Kniekehlen, sogar an den Schläfen. Es war Begehren, unermesslich, aber unwillkommen und vollkommen unerklärlich unter diesen Umständen. Und trotzdem da. Sie konnte es weder abstreiten noch ignorieren, egal wie sehr sie es versuchte. Sie fühlte sich von seiner Urgewalt betrogen, als ob ihre Begierde gegen ihren gesunden Menschenverstand revoltierte.
Die Sommerhitze wurde drückender, und sein Duft umhüllte sie, machte sie ganz benommen … brachte sie dazu, ihn haben zu wollen. Seine Hand glitt tiefer ihren Nacken herunter, seine Finger waren zu heiß, verbrannten ihr die Haut. So lebendig und warm und unglaublich männlich. Auf einmal war sein Körper ganz nah bei ihr. So nah, dass seine Stirn beinahe die ihre berührte und ihr stöhnender Atem sich mit seinem vermischte. „Keine Spielchen mehr. Ich will eine Antwort, und zwar jetzt gleich. Wie konnte das passieren?“
„Ich … ich habe keine Ahnung.“ An seinem finsteren Gesicht erkannte sie, dass er ihr das nicht glaubte, und die Worte platzten vor lauter Angst und Frustration aus ihr heraus. „Ich schwöre es, Ian. Mir ist völlig schleierhaft, wie das passieren konnte. Deshalb bin ich ja hierhergekommen. Ich hatte Angst. Ich musste unbedingt wissen, ob es Ihnen gut geht.“
„Ob es mir gut geht?“, knurrte er, seine Wimpern waren so lang und dicht, dass sie Schatten auf sein Gesicht warfen. „Lieber Himmel. Ich bin doch nicht derjenige, dem man beinahe die verdammte Kehle rausgerissen hätte.“
In diesem Augenblick raste ein Polizeiwagen mit heulender Sirene um die Ecke, an dem alten, verwitterten Haus vorbei und verschwand in der Nacht. Beide machten vor Schreck einen Satz und zuckten bei dem schrillen Heulton zusammen.
Ian trat von ihr zurück, fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar, und ihr Blick wurde wieder von den Bewegungen der Muskeln seiner Brust und seines Arms angezogen. „Ich brauche ‘ne Zigarette“, murmelte er und verschwand in seinem dunklen Apartment. Immerhin knallte er ihr nicht die Tür ins Gesicht, weshalb Molly annahm, dass er sie diesmal nicht fortschickte. Sie folgte ihm und schloss die Tür hinter sich.
Ohne das Licht von der Straßenlampe war es drinnen völlig finster. Da sie nichts mehr sehen konnte, wurden ihre anderen Sinne aktiver, ihr eigenes Keuchen füllte ihre Ohren, ihre Haut war so empfindlich, dass sie meinte, die Dunkelheit spüren zu können. Es war, als würde sie über ihre Haut gleiten wie die federleichte Berührung von Fingerspitzen, strich über ihre Wangen, ihr Kinn, ihre Kehle.
Jetzt ganz ruhig bleiben. Nicht ausflippen. Und um Gottes willen bloß nicht wieder anfangen zu heulen. Er wird dich sonst noch für verrückt halten. Wahrscheinlich tut er das sowieso schon.
Während sie, wie zur Beruhigung, tief Luft holte, bahnte Molly sich einen Weg durch die Finsternis, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte, bis ein wenig Licht durch eine Tür am anderen Ende des Raums drang. Sie folgte dem Licht, und plötzlich stand sie ihm in der Küche gegenüber, mit seinen mächtigen Schultern lehnte er neben einem kleinen Fenster an der Wand, den Kopf gesenkt und zündete sich eine Zigarette an. Er schaltete eine kleine Lampe über der Spüle an, das gedämpfte Licht war zu schwach, um die Schatten aus den Ecken zu vertreiben, aber es umgab ihn mit einem diesigen Goldschleier.
Er warf ihr einen neugierigen Blick zu und sprach zögernd, verblüfft. „Warum haben Sie am Schluss meinen Namen geschrien? Habe ich Ihnen wehgetan?“
Vorsichtig ließ sie sich auf einen Pinienstuhl neben einem kleinen Tisch fallen und wünschte, sie hätte etwas Wärmeres angezogen. Die kalte Luft der Klimaanlage drang durch das dünne T-Shirt, kroch ihr bis ins Mark, während Ian nur zur Hälfte angezogen dastand, sein Oberkörper von
Weitere Kostenlose Bücher