Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
Augenblick wachte Ian auf.
6. KAPITEL
Mit ersticktem Keuchen schlug Ian die Augen auf. In seinem Wohnzimmer schienen sich die Schatten zu bewegen. Die leisen Geräusche des Fernsehers wurden von seinem hämmernden Herzschlag übertönt, die flackernden Farben des Monitors verliehen dem Raum ein trübes psychedelisches Glimmen. „Großer Gott“, wisperte er, rieb sich mit den Händen übers Gesicht, sein Körper war schweißbedeckt, und er spürte eine solche Enge in der Brust, dass er einen Moment lang glaubte, es wäre ein Herzinfarkt, der ihm so zusetzte.
Aber dann stieg ihm ein seltsam erdhafter Geruch in die Nase, er nahm die Hände vom Gesicht, kniff die Augen zusammen und starrte den Dreck auf seinen Handflächen an.
Was zum Teufel war das denn?
Langsam dämmerte es ihm, als sich plötzlich sein Magen verkrampfte. Er rollte sich wie ein Fötus auf dem feuchten Sofa zusammen, ein quälender Krampf nach dem anderen schoss durch seine Eingeweide, als hätte er einen Anfall. Es war, als ob irgendetwas aus seinem Inneren herausbrechen wollte.
Er schrie auf vor Schmerz, riss sich dann aber doch zusammen, wollte sich diesem Ding in ihm nicht ergeben, das unbedingt die Kontrolle über seinen Körper erlangen wollte. Die Vorstellung, was dann aus ihm werden, was er dann alles anrichten könnte, das machte ihm noch viel mehr Angst.
Ian krümmte sich beim nächsten Krampf zusammen. Aus den Augenwinkeln erblickte er sein silbernes Handy auf dem Kaffeetisch. Riley! Das war es. Er musste seinen Bruder anrufen. Er brauchte ihn jetzt hier. Gott allein wusste, was alles passieren konnte, wenn das Biest die Oberhand gewann. Die entsetzlichen Bilder von Kendras Leiche stiegen vor ihm auf. Mit zusammengebissenen Zähnen angelte er nach dem Handy und schrie doch wieder auf, als er merkte, dass seine Fingerspitzen bluteten. Rasiermesserscharfe Krallen drangen durch die Haut, die Knochen wurden größer, die Muskeln dicker, genau wie in seinen Albträumen. Entsetzt beobachtete er, wie das Blut über seinen Handrücken rann, über die schwer pulsierenden Venen, das dick gewordene Handgelenk herunter, in die Haare auf seinem Arm.
Himmel, er verwandelte sich in ein gottverdammtes Monster!
Nein. Kein Monster. In einen Merrick.
Kaum hatte Ian dieses Wort gedanklich ausgesprochen, als ihm der letzte Traum wieder vor Augen stand und er sich daran erinnerte, was das Wesen gesagt hatte. Auch an die Drohung, die es gegen Molly ausstieß, erinnerte er sich. Und wenn er wieder in einen gemeinsamen Traum mit ihr gleiten, mit ihr vögeln, ihr Blut trinken konnte, dann war sie wahrscheinlich immer noch hier in Henning. Immer noch in seiner Nähe. Und in höchster Gefahr.
„Er ist hinter ihr her“, keuchte er. Seine Gedanken konzentrierten sich nur noch auf das eine: Er musste zuerst bei ihr sein.
Aus seiner Kehle drang ein tiefes, aggressives Fauchen. Im nächsten Augenblick raste Ian schon aus dem Apartment. Er hechtete über das Geländer des Gangs im zweiten Stock und landete auf allen vieren auf dem heißen Asphalt des Parkplatzes. In der ungewöhnlich feuchten Nachtluft hing ein schwacher Geruch von Elektrizität. Entfernter Donner grollte, ein schweres Sommergewitter war im Anzug, das ihn gespenstisch an den Traum mit Molly erinnerte. Der kiesige Belag dampfte unter seinen nackten Fußsohlen, die Schatten wurden von einem schwachen Glimmen geheimnisvoll erhellt. Eigentlich war er gar nicht fähig, nachts so klar zu sehen, das wusste er. Eigentlich hätte ihn auch der Sprung barfuß aus dem zweiten Stock verletzen müssen, aber er rannte einfach los. Sein Körper fühlte sich lebendiger und kraftvoller an als je zuvor.
Ian raste über die leere Straße hinein in den dichten Wald, weil das der kürzeste Weg zu Molly war. Zweige zerkratzten sein Gesicht und seine Arme, aber davon ließ er sich nicht aufhalten. Die starken Muskeln seiner Schenkel trieben ihn voran, wie in den Träumen, wenn er auf das Lagerfeuer der Zigeuner zulief. Ein Blitz barst durch die Wolken wie ein Pistolenschuss und echote durch den Wald. Er rannte weiter. Nur ein silbriger Streifen Mondlicht erhellte den Weg, aber trotzdem konnte er sehen, als wäre es nicht mitten in der Nacht, sondern als würde gerade erst die Dämmerung beginnen.
Mit verblüffender Geschwindigkeit war er bereits ein paar Kilometer gelaufen, als er über sich einen lauten, vertrauten Schrei hörte. Ian blieb stehen, die Nacht umhüllte ihn wie ein Gespensterschwarm, der um sein
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