Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
Genick schlich. Das Ding in ihm wollte diesem bestialischen Heulen antworten, die Klauen ausfahren und den Kampf aufnehmen. Ian wusste, das Wesen würde kommen. Er legte den Kopf zurück und sog den ranzigen Gestank ein, seine Sinne waren viel schärfer, als sie sein sollten, es waren die des Raubtiers, das in ihm lauerte.
Noch ein Blitz zuckte über den tiefschwarzen Himmel, und die ersten Regentropfen fielen. Der Regen durchtränkte sein Hemd, strömte kalt über seine Haut, aber er blieb unbeweglich stehen, wartend, witternd. Und dann endlich entdeckte er es, wie es sich zwischen zwei knochigen Pinien anpirschte. Entsetzen machte sich in ihm breit. In diesem Augenblick fühlte er sich wieder so hilflos wie früher, als er noch ein Kind war. Immer wenn er mitten in der Nacht in dem knarzenden alten Haus erwachte, war er überzeugt gewesen, dass ein Monster im Schrank hockte, und stundenlang hatte er unter der Decke vor Angst gezittert.
Dass er im Alter von zweiunddreißig Jahren, und nach allem, was er durchgemacht hatte, so leicht wieder in diese Zeit versetzt werden konnte, das war wirklich erbärmlich.
„Ich kann deine Angst riechen, Merrick“, grunzte das Wesen, schlich sich näher heran, der Regen strömte silbrig über seinen pelzlosen Körper, die graue Haut glänzte schleimig, obwohl Ian aus seinen Träumen wusste, dass sie sich in Wirklichkeit trocken anfühlte. Die äußerlichen Einzelheiten dieser Kreatur stimmten genau mit seinen Albträumen überein. Breite, gekrümmte Schultern über einem gezackten Rückgrat. Breites Maul, lange gebogene Klauen. Wolfsähnlicher Schädel, riesige Gestalt, ledrige hellgraue Haut. Weit über zwei Meter groß, bepackt mit mächtigen Muskeln, entsprach es ganz seiner Vorstellung des absolut Bösen – bis hin zu den durchdringenden eisblauen Augen.
Beim Gedanken an Kendra zog sich ihm das Herz zusammen. Was für entsetzliche Angst musste sie beim Anblick dieses Monsters gehabt haben, in den Minuten, bevor sie ihren letzten Atemzug tat.
„Es überrascht mich, dass du den Mut hast, mir gegenüberzutreten“, krächzte die Kreatur in dämonischem Singsang, die Worte drangen nur verstümmelt aus seinem unförmigen Maul. „Besonders, nachdem du gesehen hast, was ich mit der reizenden kleinen Kendra angestellt habe.“
Aus seiner Angst wurde Wut, und Ian bereitete sich jetzt auf den unvermeidlichen Angriff vor. Die rasiermesserscharfen Krallen an seinen Fingerspitzen waren seine einzige Waffe – und die wollte er auch einsetzen. Die Befriedigung, ihn in die Flucht gejagt zu haben, wollte er diesem Bastard nicht bescheren. Und wenn das Wesen ihn in Stücke riss, ging er wenigstens mit wehenden Fahnen unter.
Erneut flammte ein Blitz auf, schlug in der Nähe in einen Baum ein, und im selben Augenblick sprang der Casus los, trat mit beiden Pfoten nach Ian, traf ihn mitten auf der Brust. Die Luft platzte förmlich aus seiner Lunge, der mächtige Tritt schleuderte ihn auf den regennassen Waldboden. Die Piniennadeln federten den Aufprall kein bisschen ab, als das Biest auf ihm landete und ihn zu Boden quetschte. Sofort schnappte es mit weit aufgerissenem Rachen nach seiner Kehle, Speichel tropfte von langen, tödlichen Reißzähnen.
Ian war entschlossen, jeden schmutzigen Trick anzuwenden. Er rammte der Kreatur das Knie in die Eier und wollte ihr gleichzeitig seine Krallen in die Augen stechen. Aber das Wesen riss Zähne fletschend den Kopf zurück. Ian trat nach dem Kopf, und es verlor das Gleichgewicht. Er rollte über den sumpfigen Boden, sprang auf, aber schon ging der Casus mit übernatürlicher Kraft und Schnelligkeit wieder auf ihn los. Ian kämpfte bis zum Letzten, aber das war nicht genug. Das Wesen war zu stark, parierte jeden seiner Angriffe ohne große Mühe.
Er konnte es nur kurzzeitig in Schach halten, das Unvermeidliche hinauszögern, konnte ihm kaum Schaden zufügen, während diese böse Kreatur ihm mit lachhafter Leichtigkeit Wunden zufügte. Instinktiv war Ian klar, dass er nur eine Chance hatte, wenn er sich nicht mehr gegen sein Innerstes sträubte. Verzweifelt wollte dieses zweite Ich seinen Widerstand überwinden und auf eigene Rechnung gegen den Casus kämpfen; Ian fühlte sich innerlich genauso ramponiert wie äußerlich. Aber er konnte es nicht freilassen, zu groß war seine Angst davor, was dann aus ihm würde.
Der Himmel donnerte, es regnete wie aus Eimern und das Wesen griff schon wieder mit schnellen Hieben an. Ian konnte gerade noch
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