Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
jetzt nicht hier, darauf kannst du deinen süßen kleinen Arsch verwetten. Und da wir ja jetzt haben, was wir wollten, lass uns von hier verschwinden.“
„Moment noch“, sagte sie schnell und holte die Schuhschachtel aus der Kiste, auf der der schwarze Kasten gestanden hatte. „Die haben wir noch nicht aufgemacht.“ Sie hob den Deckel ab.
„Und was ist drin?“
„Das hier.“ In der einen Hand hielt sie ein kleines, ledergebundenes Tagebuch, in der anderen einen gerahmten Schnappschuss. Molly hielt ihm das Tagebuch hin, aber anstatt es zu ergreifen, starrte Ian auf das Foto in dem hölzernen Rahmen.
„Das bin ich mit Elaina“, sagte er leise. „Mann, was war ich für ein dürrer kleiner Bengel.“
Sie musste ein bisschen lächeln. „Du warst absolut entzückend, Ian. Und du hast tatsächlich gegrinst. Ohne diesen finsteren Blick im Gesicht hätte ich dich fast nicht erkannt.“
„Sehr witzig.“ Er verdrehte die Augen.
„Sieh dir das mal an … am Rand von dem Rahmen. Da sind ganz abgegriffene Stellen.“ Entsetzliche Traurigkeit stieg in ihr auf, als sie mit dem Finger über die abgegriffenen Ecken strich. Elaina muss den Rahmen unzählige Male umklammert haben. Sie blickte auf in seine abweisende Miene und gab ihm das Bild. „Elaina muss dich sehr vermisst haben.“
„Lieber Gott“, murmelte er und rieb mit dem Daumen darüber.
Molly kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen. Seine herben Gesichtszüge waren mit einem Mal von großem Bedauern gezeichnet. Bei all seinem machohaften Herumpoltern hatte Ian Buchanan doch einen zarten Kern, wenn auch viele Narben dabei waren. Er mochte ziemlich angeschlagen sein und eine raue Schale haben, aber er war trotzdem noch stark und im Innersten gut. Hinter dem Riss zwischen ihm und Elaina musste noch mehr stecken – irgendetwas Tieferes als jugendliche Rebellion und Streitereien. Was immer es war, es hatte gereicht, um sie auseinanderzuhalten – und diese Tatsache bedauerte er nun. In diesem Augenblick wurde Molly etwas Eigenartiges klar.
Schon die Art, wie er Kendra Wilcox betrauerte, hatte sie gerührt – aber wie tief seine Gefühle jetzt waren –, Gott, sie schmolz nur so dahin. Das alles machte ihn für sie erst wirklich begehrenswert. Der griesgrämige, viel zu attraktive Frauenheld, der Zyniker verwandelte sich in einen Mann voller Mitgefühl und Tiefe. Und jetzt wusste sie auch: Pure physische Anziehungskraft allein wäre niemals in der Lage gewesen, sie körperlich und seelisch derart zu verwirren.
Von Anfang an war er eine Gefahr für ihren Körper gewesen – jetzt war er auch noch eine Gefahr für ihr Herz.
Sie hielt ihm das Tagebuch hin. „Du solltest das hier nehmen, Ian. Es muss etwas Wichtiges drinstehen, wenn sie es dir zusammen mit dem Kreuz hinterlassen hat.“
„Leg es zusammen mit dem Foto wieder in die Schachtel. Die nehmen wir zusammen mit dem Kasten mit.“
„Und wirst du es auch lesen?“ Sie machte den Deckel zu und setzte den schwarzen Kasten darauf.
Ian rieb sich den Nacken und ließ ein hohles Lachen hören. „Nee, aber du solltest das tun. Vielleicht steht was drin, das uns weiterbringt.“
„Ich weiß nicht.“ Der Gedanke war ihr unbehaglich. „Es ist ja nicht mir hinterlassen worden. Ich würde mich dabei fühlen, als würde ich in ihre Privatsphäre eindringen.“
„Ach, zum Teufel, Molly, sie schleicht sich doch jetzt schon seit Monaten in deinen Kopf ein.“ Er packte die Schuhschachtel und den Kasten und ging zur Tür. „Führ dich nicht auf wie eine Pfadfinderin. Ist doch nur fair, wenn du im Gegenzug ihr Tagebuch liest.“
„Ian, du glaubst doch nicht wirklich, dass sie …“
„… deine Gedanken lesen kann?“, beendete er den Satz für sie und warf ihr einen stichelnden Blick über die Schulter zu. Das Bedauern, das ihn noch eine Sekunde zuvor so verletzlich hatte aussehen lassen, versteckte sich, als hätte es nie existiert, hinter einem verdorbenen, sexy Grinsen. Trotzdem würde sie es nicht vergessen.
Nein, es war nicht mehr zu leugnen, Molly war begeistert von ihm. Sie hätte sein Lächeln sogar erwidert, der Gedanke daran, seine Mutter könnte in ihrem Kopf herumschnüffeln, besonders angesichts der Tatsache, was sie sich letzte Nacht für Gedanken über seinen Körper gemacht hatte, war ihr allerdings mehr als unbehaglich. Hilfe. Das wäre verdammt peinlich.
„Im Ernst, Ian“, hob sie bedrückt an, als die beiden hinaus in die sengende Nachmittagssonne traten.
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