Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
durchzublättern, aber Ian würde garantiert etwas dagegen haben. Die Bilder hätten ihre Neugier auf die Familie Buchanan ein wenig befriedigt – vor allem auf diesen komplizierten, verwirrenden, durch und durch faszinierenden Mann, der sie durch die offene Tür beobachtete. Er lehnte mit dem Rücken an einem Gebäude, die qualmende Zigarette im Mundwinkel. Molly erblickte ihn, als sie die Kiste mit den Fotoalben beiseiteschob, doch sie wusste auch so, dass er da war und sie beobachtete. Sie spürte seinen Blick. Die Hitze, die darin lag. Den Hunger. Die Frustration.
So hatte er sie schon den ganzen Tag beobachtet; und in den Wahnsinn getrieben.
Molly durchschnitt mit Ians Wagenschlüssel das Klebeband um die ungeöffnete Schachtel, hob den Deckel an und spürte sofort ein merkwürdiges Prickeln auf den Armen. Vor Aufregung atmete sie schneller und griff nach etwas, das dick mit Packpapier eingeschlagen war. Darunter kam ein glänzender schwarzer Holzkasten zum Vorschein, der auf einer etwas breiteren Schuhschachtel ruhte. Mit klopfendem Herzen schmiss Molly das Packpapier weg, holte den Kasten heraus und stellte ihn auf die nächste Umzugskiste. „Ich glaube, ich habe was gefunden!“, rief sie.
„Was ist es denn?“, keuchte Ian, plötzlich neben ihr; er musste mit einem Satz über ein oder zwei Kisten gehechtet sein.
„Weiß ich auch nicht.“ Unsicher hob sie den Schnappverschluss an und öffnete den Kasten. Ihr tiefer Atemzug war deutlich hörbar in der stickigen Stille, während Ian neben ihr ganz ruhig blieb. Auf einem Bett aus blutrotem Samt lag ein komplex verziertes Malteserkreuz, hergestellt aus irgendeinem glänzenden Metall, an dem eine schwarze Samtkordel zum Umhängen befestigt war.
„Mein Gott“, flüsterte sie. Der Mann neben ihr stieß einen Fluch aus. „Ich glaube, das ist es, Ian. Was wir finden sollten. Elaina sagte, ich würde es wissen, sobald ich es erblicke. Das hier muss es sein.“
„Da oben in dem Kasten klebt irgendwas“, sagte er.
„Stimmt.“ Vorsichtig löste sie einen kleinen, gefalteten Zettel ab, hielt ihn Ian hin, der ihr aber bedeutete, selbst zu lesen, was da stand. Sie klappte den Zettel auf und las laut vor.
Mein geliebter Ian,
Ich habe Riley gebeten, Dir nach meinem Tode diesen Kasten zu übergeben. Ich hoffe, Du wirst mit dem Inhalt sorgsam umgehen und auf Dich aufpassen. Wenn die Zeit kommt, wirst Du Deine Bestimmung nicht ohne Kampf akzeptieren, das ist mir klar. Bitte trage diesen Talisman zu Deinem Schutz. Das Kreuz wird Dir die Macht verleihen, Dinge in Ordnung zu bringen, wenn die Zeit des Erwachens kommt.
Sei versichert, dass ich Dich liebe. Ich habe Dich sehr vermisst, aber ich werde in aller Ewigkeit über Dich wachen.
Mit all meiner Liebe
Mom
Molly faltete den Brief wieder zusammen, legte ihn in den Kasten und sah Ian an. Grimmig starrte er das Halsband … den Talisman … an, als könne er seine Geheimnisse mit seinen Augen lüften, wie Wind, der den Nebel wegbläst und die Konturen einer Küstenlinie enthüllt.
Auch er atmete hörbar ein, das T-Shirt spannte sich vor seiner Brust. „Herrgott“, murmelte er und rieb sich das Kinn. „Die Frau ändert sich nie.“
„Wie meinst du das?“
„Sie meint, ein dämliches Halsband würde mich retten.“ Er ließ ein höhnisches Lachen hören, das allerdings einigermaßen unsicher und mitgenommen klang. „Das sieht ihr echt ähnlich. Ständig eine bizarre, bekloppte Idee nach der anderen.“
„Es ist wunderschön.“ Sie klang gedämpft, beinahe ehrfürchtig. Molly spürte seine Bitterkeit … seine Ablehnung, als ob das Kreuz für irgendetwas Wichtiges stünde – etwas, das immer zwischen ihm und seiner Mutter gestanden hat –, aber sie hatte keine Ahnung, was das sein mochte.
„Tja, schon, es mag ja schön sein, aber das heißt noch lange nicht, dass ich es haben will.“ Er biss die Zähne zusammen, steckte die Hände tief in die Hosentaschen und warf ihr einen schmalen Blick zu. „Ich kenne jede Menge schöne Sachen, mit denen ich zurzeit lieber nichts zu tun haben will.“
Ihr Blick wanderte wieder zu dem Halsband, Hitze stieg in ihren Wangen auf. So wie er sie ansah, war völlig klar, dass er sie damit meinte.
„Molly“, krächzte er mit erstickter Stimme. „Verdammt, ich wollte doch nicht …“
Sie wollte keine Erklärung hören und schnitt ihm das Wort ab. „Du weißt, wo ich diese Gestaltung schon mal gesehen habe, nicht wahr, Ian?“
Er stöhnte ungeduldig auf, weil sie
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