Wenn der Tod mit süßen Armen dich umfängt
bevor es zu einem Urteil kam. Das Ganze konnte sich über Jahre hinziehen. Solange hingen sein Leben und seine Karriere in der Schwebe. »Soll ich vielleicht mal LaSovage anrufen? Du könntest ihm beim taktischen Training aushelfen. Dann wärst du immer noch in der Nähe von Washington, falls der Staatsanwalt dich kurzfristig braucht.«
Das heiterte ihn auf. LaSovage gehörte zu dem in der FBI -Akademie Quantico stationierten Geiselbefreiungsteam und bildete junge Agenten aus. Er war immer auf der Suche nach Dozenten, die genügend praktische Erfahrung hatten, um mit den Neuanwärtern zu trainieren. »Danke, das wäre großartig.«
Sie aßen ohne Eile, obwohl die Zeit bis zu Caitlyns Abflug langsam knapp wurde.
»Dieser Kerl da gestern«, sagte er.
»Schultz?«
»Ja. Ich habe mir das Video von der Festnahme angesehen. Wie er sein Kind einfach so im Stich gelassen hat. Was hättest du getan, wenn sie nicht auf dich gehört hätte? Hättest du sie erschossen?«
Die Dienstvorschriften ließen hier keinen Zweifel, wie sie sich hätte entscheiden müssen. Ein bewaffneter Gegner mit Tötungsabsicht – in einem solchen Fall stand die Sicherheit des Beamten an erster Stelle. Und hätte sie irgendjemand anders das gefragt, hätte Caitlyn die Vorschriften wörtlich zitiert. Aber vor ihr saß Carver, und ihm gegenüber wollte sie immer ehrlich sein.
»Nein.«
Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Du hast dich selbst in ihr wiedererkannt. Wie sie einen Elternteil verteidigt.«
»Wohl eher darin, wie sie von einem Elternteil verraten wird. Weißt du, was Schultz auf die Frage des Sheriffs geantwortet hat, wieso er abgehauen ist und seine Tochter zurückgelassen hat? Dass es verdammt noch mal ihre eigene Schuld gewesen sei, weil sie uns nicht erschossen habe; das hätte er ihr anders beigebracht. Und wenn sie geschossen hätte, dann wäre ihm genügend Zeit geblieben, um sich aus dem Staub zu machen. Ist das zu fassen? Es war ihm egal, ob wir sie erschießen oder sie uns umlegt!«
»Was hast du erwartet? Der Kerl ist offensichtlich ein Soziopath.«
»Was interessiert dich so an ihm?« Ihr dämmerte etwas. »Dir geht es gar nicht um Schultz. Sondern um meine Mutter.« Ebenfalls eine Soziopathin – was Caitlyn allerdings erst vor zwei Monaten erkannt hatte. Das nannte man dann wohl einen blinden Fleck.
Er langte in seine Jackentasche und zog einen Briefumschlag hervor. »Ich habe lange überlegt, ob ich ihn dir geben soll. Der kam an, während du unterwegs warst.«
Der Absender war eine angesehene Anwaltskanzlei für Strafrecht in Asheville, North Carolina. Sie war versucht, den Umschlag ungeöffnet wegzuwerfen, so wie die unzähligen Briefe, die ihre Mutter ihr aus dem Gefängnis geschrieben hatte. Schon komisch, nie zuvor hatte ihre Mutter ihr einen Brief geschrieben – erst dann als sie wegen Mordes hinter Gittern saß. Jetzt schien sie alle Zeit der Welt zu haben.
Caitlyn öffnete das Schreiben und spürte Carvers Blick. Zunächst faltete sie das dicke Papier mit dem schicken Briefkopf auseinander, der offenbar Eindruck schinden und sie einschüchtern sollte. Was dann folgte, war in derselben Absicht verfasst worden. Während sie las, hörte sie die Stimme ihrer Mutter und nicht die eines namenlosen Anwalts.
»Sie informieren mich darüber, dass sie für die Vorverhandlung eine Offenlegung sämtlicher Patientenakten von mir fordern werden.« Eine klare Drohung.
Was Carver auch sofort begriff – manchmal war es ihr direkt unheimlich, wie gut sie einander verstanden. »Dieser Kerl, den du sitzen gelassen hast, der Arzt, den werden sie auch vorladen wollen.«
»Wieso? Paul ist Radiologe, er hatte nie wieder etwas mit meiner Krankengeschichte zu tun, nachdem er seine Diagnose gestellt hatte.« Und ihr das Leben gerettet, weil ihm das verletzte Blutgefäß im Gehirn aufgefallen war. Das einzig Positive an ihrer Begegnung mit einem psychopathischen Gangster, der sie beinahe umgebracht hätte.
»Das nicht, aber er war mit dir zusammen.« Carver schaute mit sorgenvoll gerunzelter Stirn in die Überreste seines Frühstücks. »Er sagte mir, seiner Meinung nach seist du nicht arbeitsfähig und solltest keine Waffe tragen dürfen. Er erwähnte auch, dass du die Ärzte vom FBI irgendwie getäuscht hättest, um nach der Gehirnoperation wieder in deinem Beruf arbeiten zu können.«
Ihr Beruf war während der Beziehung mit Paul ein ewiger Streitpunkt gewesen, und einer der Gründe, warum sie ihn verlassen
Weitere Kostenlose Bücher