Wenn der Tod mit süßen Armen dich umfängt
würde es Ihnen etwas ausmachen, alleine zu gehen? Ich glaube nicht, dass ich den Anblick ertrage – ich meine, was die dem armen Vincent angetan haben …« Sie musste die aufwallenden Tränen zurückdrängen.
»Selbstverständlich, selbstverständlich.« Shapiro tätschelte ihr beruhigend den Arm. »Wir werden auch nicht lange brauchen.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Nach dem, was gestern passiert ist, als wir gemerkt haben … nun, statt einer Zeremonie am Grab hat Mr Decker eingewilligt, eine Einäscherung vorzunehmen. Ohne Extrakosten. Also waren wir eigentlich schon alle dabei, langsam aufzubrechen … Oh, aber Sie sind natürlich herzlich eingeladen, zur Totenwache zu kommen.« Sie nickte auch Jake zu. »Sie beide. Falls Sie es einrichten können.«
»Vielen Dank, Ms Thomson. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich fürchte nur, Agent Carver und ich haben noch einen langen Tag vor uns. Aber wir wissen das wirklich zu schätzen.«
»Ich verstehe. Aber lassen Sie uns bitte wissen, wenn wir noch irgendwie weiter behilflich sein können.«
»Selbstverständlich werden wir das. Und richten Sie ihrer Großmutter aus, dass ich für sie und die ganze Familie beten werde.« Shapiro nahm sie am Arm und nickte ernst.
Kurz darauf saßen sie im Büro des Bestatters. »Das war ja ein Auftritt«, sagte Jake zu Shapiro, während sie warteten. »Sehr diplomatisch.«
»Daran war nichts gespielt«, erwiderte Shapiro. »Vincent Thomson ist Opfer eines Drive-by-Shootings gewesen. Elf Kugeln haben ihn durchsiebt, vier davon trafen ihn im Gesicht. Der Junge war fünfzehn Jahre alt – Deidres Großneffe. Seine Mom sitzt im Knast, der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht, den Rest können Sie sich denken. Na, jedenfalls musste die Beerdigung wegen der schweren Verletzungen ohne offenen Sarg stattfinden, doch seine Urgroßmutter wollte dem Jungen gestern noch ein paar Abschiedsgeschenke mit hineinlegen.«
»Und inwiefern ist das ein Fall fürs FBI ?«
Ehe Shapiro antworten konnte, betrat ein übergewichtiger dunkelhäutiger Mann das Büro, der glatt als melancholischer Weihnachtsmann hätte durchgehen können. Er trug einen klassischen schwarzen Anzug mit passendem schwarzem Hemd und ebensolcher Krawatte. »Agent Shapiro, ich hörte, dass Sie wieder da sind. Was können wir jetzt für Sie tun?«
Shapiro stand auf und sah den Bestattungsunternehmer mit strenger Miene an. »Mein Partner, Special Agent Jake Carver vom FBI , möchte sich persönlich von der Beweislage überzeugen, Mr Darrow. Bevor Sie alles einäschern. Und ich muss die Unterlagen einsehen, die Sie gestern nicht vorweisen konnten.«
Der Mann erwiderte Shapiros Blick ebenso feindselig, aber Jake sah gleich, dass es nur geblufft war. Einen Moment später knickten seine Schultern ein und die Fußspitzen zeigten bereits zur Tür.
Shapiro war das ebenfalls nicht entgangen. »Sofort!«, befahl er nun gar nicht mehr so feinfühlig und rücksichtsvoll, wie er sich eben noch der trauernden Familie gegenüber gezeigt hatte.
»Gewiss. Kommen Sie mit.« Darrow führte sie einen langen Flur entlang zu einer Tür mit der Aufschrift: VORBEREITUNG ZUR EINÄSCHERUNG – KEIN ZUTRITT . Er schloss die Tür auf, und sie kamen in einen kleinen Raum mit mehreren Edelstahltischen. Auf einem von ihnen stand ein Pappkarton von der Größe eines Menschen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sah Jake zwei schwere Türen, auf denen jeweils BRENNKAMMER. KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE stand. Ein junger Mann im Kittel kam durch eine der Türen. »Wir wären dann so weit.«
»Einen Moment noch«, sagte Darrow. »Diese Ermittler hier müssen den Leichnam vor seiner letzten Reise noch einmal sehen. Könnten Sie den Herren freundlicherweise behilflich sein?«
Der Assistent zuckte mit den Schultern. »Klar.«
Darrow nickte Shapiro zu. »Ich werde die Unterlagen bereithaben, wenn Sie hier fertig sind.«
Shapiro lächelte bemüht. »Danke.« Damit drehte er dem Bestatter den Rücken zu und gab dem Assistenten ein Zeichen. »Aufmachen, bitte.«
Jake hätte das vor Shapiro niemals zugegeben, aber seine Erfahrung im Umgang mit dem Tod beschränkte sich weitestgehend auf Milchkühe, die seine Eltern auf ihrer Farm hielten. Und bei den Reapers hatte es zwar haufenweise Schlägereien gegeben, auch Blut war geflossen, Leichen hatte er jedoch nie zu Gesicht bekommen.
Er wahrte die Fassade, war allerdings froh, dass er vorhin bei seinem Treffen mit Lynn nicht dazu gekommen war, ein
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