Wenn der Wetterhahn kräht
wurden schon ganz steif. Es fiel ihr schwer, feste Knoten zu binden.
Ihren eigenen band sie zuletzt, denn als die kleinste und dünnste würde sie als
erste untergehen. Die beiden konnten sie dann losbinden und sinken lassen. Sie wollte
auf keinen Fall, daß Peter sie als aufgedunsene Wasserleiche sah. Er würde sich
auch so schon genug aufregen.
»Okay, Marsh, jetzt binde ich dich
fest.«
Catriona hatte ihr den Gürtel
abgenommen. Helen fühlte, wie er um ihr Handgelenk gelegt und zu einem engen
Knoten gebunden wurde. Viel zu eng. Die Blutzufuhr würde abgeschnürt werden.
Aber war das jetzt nicht ohnehin egal?
»Nun mach schon, Marsh! Strample mit
den Beinen, beweg deine Arme. Bring deine alten Korpuskeln auf Trab.«
Cat hatte anscheinend bemerkt, was mit
ihr los war, und versuchte es zu verhindern. Die liebe alte Cat. Helen
versuchte verzweifelt zu strampeln. Ihre Turnschuhe fühlten sich an wie
Bleigewichte. Nur die Arme konnte sie noch bewegen, jedenfalls im Moment noch.
Sie erinnerte sich nicht daran,
aufgegeben zu haben. Sie erinnerte sich an herzlich wenig, bis sie schließlich
ihre Füße wieder zu spüren begann. Sie schmerzten und kribbelten, als wären sie
eingeschlafen, beinahe so, als säße sie zu Hause und läse, während Jane Austen
auf ihren Füßen schlief, bis auch die Füße schlafen wollten und wieder
aufgeweckt werden mußten, nur noch viel schlimmer.
Auch ihr Gesicht schmerzte. Das kam
anscheinend daher, daß jemand sie ohrfeigte und dabei anbrüllte.
»Marsh! Verdammt noch mal! Nun mach schon!
Werd endlich wach!«
»Uhm.« Helen drehte den Kopf weg, um
dem nächsten Schlag auszuweichen. »Hör auf, Cat. Mir geht’s gut.«
»Vor ein paar Minuten sahst du noch
alles andere als gut aus. Hier, trink das.«
Das war Iduna, und sie hielt ihr etwas
an die Lippen. Whiskey? Bourbon? Gewürzrum? Helen hatte keine Ahnung, was es
war, und es war ihr auch ziemlich gleichgültig. Es brannte, und sie spürte, wie
es ihr die Kehle hinunterrann. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und stellte
fest, daß sie dazu nicht in der Lage war.
»Okay. Tut mir leid. Ich hoffe, ich
habe euch keine zu großen Umstände gemacht.«
»Jetzt halt bloß die Klappe, du blödes
Ding.«
Cat drückte sie an sich. Cats Arme
waren klatschnaß. Sie waren beide naß und kalt und zweifellos auch ein bißchen
hysterisch. Außer Iduna. Iduna holte gerade Papierservietten aus ihrem
Picknickkorb, damit sie sich die Hände trocknen konnten, und Sandwiches, die in
ihren verschweißten Plastiktüten immer noch höchst appetitlich aussahen.
»Je schneller wir sie essen, desto besser.
Die Kalorien werden uns wieder aufwärmen. Helen, ich weiß zwar, daß du keinen
Zucker im Kaffee trinkst, aber ich gebe dir trotzdem welchen. Im Moment hast du
ihn nämlich dringend nötig.«
»Wie du meinst, Iduna.« Helen trank
gehorsam aus dem Plastikbecher und biß in ihr Sandwich. Schinken und Käse.
Viele kräftigende Proteine. »Wo sind wir überhaupt?« fragte sie mit vollem
Mund. »Und wie sind wir hierher gekommen?«
»Zwei Fragen, aber nur eine Antwort«,
sagte Catriona. »Keinen blassen Schimmer. Der nette Wal hat uns gerettet, als
er die Wellen gemacht hat. Wir hatten Glück und wurden auf eine der Inseln
geschwemmt. Obwohl die Geschichte natürlich viel spannender gewesen wäre, wenn
der Wal uns auf seinem Rücken hergetragen hätte.«
»Der nette Wal war ich. In Zeiten der
Not gibt es wirklich nichts besseres als eine ordentliche Schicht Speck auf den
Rippen.« Iduna nahm sich selbstzufrieden ein weiteres Sandwich. »Meine Güte,
die schmecken aber gut, Cat. Ein Glück, daß der Korb mit Plastik ausgelegt ist.
Ich hatte eine Heidenangst, daß Wasser eindringen könnte, aber alles ist
knochentrocken geblieben, was ich leider momentan von mir nicht behaupten kann.
Ich glaube, am besten nehmen wir meinen Regenmantel und machen ein Schutzdach
daraus, wenn wir etwas finden, woran wir das Ding aufhängen können, und dann
sammeln wir ein bißchen Treibholz für ein Feuer. Je schneller wir uns trocknen
und aufwärmen, desto besser werden wir uns morgen früh fühlen.«
»Aye, aye, Käpt’n.« Helens Stimme klang
belegt. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, daß sie die ganze Zeit geweint
hatte, während sie gegessen hatte. »Tut mir leid, daß ich so eine Heulsuse
bin.«
»Ach, halt die Klappe«, sagte Catriona.
»Das ist nur eine verspätete Reaktion, weil man dich über Bord geworfen und ins
eiskalte Wasser geschmissen
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