Wenn die Liebe erwacht
»Leonie ist ein Kind. Was für eine Hochzeit?«
»Sie ist fast zwanzig, William. Du wolltest nicht zulassen, daß sie heiratet. Du hast jeden Antrag abgelehnt. Daher hat der König diese Angelegenheit in die Hand genommen. Du hast seinen Befehl doch gesehen. Soll ich ihn holen, damit du ihn noch einmal lesen kannst? König Heinrich hat das Aufgebot persönlich veröffentlicht. Leonie wird Sir Rolfe d’Ambert in Crewel heiraten.«
William schüttelte matt den Kopf. Soviel konnte er nicht auf einmal fassen. Leonie sollte fast zwanzig sein? Welche Anträge hatte er abgelehnt? Heinrich befahl die Ehe seines Kindes? Beim heiligen Blute Christi, er konnte sich seine Tochter nicht als erwachsene Frau vorstellen. Er sah sie immer noch als Kind vor sich, mit diesen großen, grauen Augen, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren. Verheiratet?
»Ich kann mich nicht erinnern, einen Ehevertrag unterzeichnet zu haben, Judith. Sind Elisabeths Bedingungen eingehalten worden?«
Judith runzelte die Stirn. »Was für Bedingungen?«
»Leonis Mitgift soll in ihrem Besitz bleiben, damit sie tun und lassen kann, was sie will. Es war der Wunsch ihrer Mutter, sie auf diese Weise abzusichern. Elisabeth war es auch in unserer Ehe, und sie war fest entschlossen, Leonie dieselben Vorteile genießen zu lassen.«
Judith schnappte nach Luft. Würde es für d’Ambert etwas ändern, wenn er das erfuhr? Wahrscheinlich nicht, weil ihm klar sein mußte, daß er Leonie, wenn sie erst seine Frau war, zwingen konnte, alles zu tun, was er wollte. Er konnte sie sogar zwingen, das Land zu verkaufen, falls das sein Wunsch sein sollte.
»Du brauchst dir wegen dieser Klauseln keine Sorgen zu machen.« Judith sagte ausnahmsweise etwas, was der Wahrheit entsprach. »Die Verträge werden morgen unterzeichnet, ehe die Gelübde abgelegt werden, und das heißt, daß du dann die Bedingungen festlegen kannst. Du kannst den Vertrag sogar jetzt schon aufsetzen, wenn du willst.«
»Ja, das wäre wohl das Beste. Wer ist Rolfe d’Ambert?« Es war ihm peinlich, diese Frage zu stellen, denn er hätte es sicher wissen müssen.
»Der neue Lord von Kempston.«
»Aber Sir Edmond …«
»Er ist schon seit vielen Monaten tot, William. Sein Sohn ist geflohen, ehe er verbannt werden konnte. Du erinnerst dich doch sicher daran. Du konntest ihn nie leiden. Du hast ihn schon für einen Schurken gehalten, bevor sich andere bei dem König über ihn beklagt haben.«
William seufzte. Was half es, wenn er immer wieder sagte, daß er sich nicht erinnern konnte? Es kam ihm vor, als hätte er jahrelang geschlafen. Er stellte den Weinkelch ab, doch seine Hand begann, unkontrolliert zu zittern. Noch ein wenig Wein, und seine Hand würde wieder ruhig sein. Er mußte sich um den Ehevertrag kümmern. Und er wollte nicht, daß Leonie ihn in dieser Verfassung sah.
6. KAPITEL
Leonie hörte, daß eine große Gruppe von Reisenden von Montwyn nach Pershwick kam. Das gab ihr zu denken, aber sie nahm an, daß Lady Judith ihr wieder einmal einen Besuch abstattete und diesmal mit einem größeren Gefolge als sonst reiste.
Sie traf die üblichen Vorkehrungen und schickte alle ihre kräftigen, gesunden Männer in den Turm der Burg, um sie als einen Teil ihrer Garnison auszugeben. Sie konnte nicht viel dagegen einwenden, wenn Dienstboten von Pershwick nach Montwyn abgezogen wurden, aber sie erhob lautstarke Einwände, wenn es darum ging, ihr Krieger zu entziehen.
Sie schickte einen Diener ins Dorf, um diejenigen zu warnen, die es nötig hatten, sich in den Wäldern zu verstecken, bis die Luft wieder rein war. Wilda und zwei andere junge Zofen schickte sie in ihr Gemach, damit sie in Sicherheit waren und niemandem unter die Augen kamen. Wilda besaß die Dreistigkeit, Einwände zu erheben. Sie wollte sich das seltene Ereignis nicht entgehen lassen, Gäste zu haben. Leonie fauchte: »Willst du etwa vielleicht im Garten vergewaltigt werden wie Ethelinda? Hast du gesehen, wie sie aussah, als Richer mit ihr fertig war?«
Wilda ließ sich von Leonies Zorn einschüchtern. Richer Calveley behandelte Lady Judith mit der größten Höflichkeit und Ehrerbietung, wenn er sie nach Pershwick begleitete, und Leonie fragte sich, in welcher Beziehung sie wohl wirklich zueinander standen. Wenn er ohne Lady Judith nach Pershwick kam, zeigte er sich von einer ganz anderen Seite; der übelste Charakter, dem Leonie je begegnet war, kam dann zutage. Nach Ethelindas Berichten hatte er Vergnügen daran gehabt, ihr
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