Wenn die Liebe erwacht
weiterhin mit bestimmten Teilen des Holunderbaums. Das, was sie einsammelte, sollte zu Farbe für die Webstücke verarbeitet werden. Aus der Rinde und den Wurzeln ließ sich schwarze Farbe gewinnen, aus den Blättern ein Grün. Die Farbschattierungen von hellem Fliederviolett bis zu einem kräftigen Purpur mußten warten, bis die Beeren im Herbst heranreiften.
Ein zweiter Korb, den sie bereits gefüllt hatte, enthielt Kräuter und Blüten zur Herstellung von Heilmitteln und für die Küche: Zichorie und Endivien, Liebstöckel, Majoran, grüne Minze und echte Katzenminze, weißer Mohn, Rosmarin und die Blütenblätter von Ringelblumen und Veilchen. Leonie vertraute es niemand anderem an, diese Kräuter zu pflücken, denn es konnte zu leicht Vorkommen, daß ein Dienstmädchen eine Pflanze mit der anderen verwechselte und ein giftiges Kraut für einen Salat nahm.
Als sie Pferde im Burghof hörte, fragte sie sich, wer Pershwick besuchen könnte, denn Sir Guibert wurde nicht vor dem Abend zurückerwartet. Pferde kündigten entweder Gäste oder einen reichen Kaufmann an, und in einer so kleinen Burg wie ihrer war beides eine Seltenheit.
Sie beugte sich über die niedrige Gartenmauer, um nachzusehen, und ihr Blick fiel auf einen Mann, der über einer vollständigen Rüstung die Farben des Schwarzen Wolfes trug. Er stieg von seinem riesigen schwarzen Streitroß. Zwei Krieger begleiteten ihn.
Leonie sprang mit einem Satz von der Mauer zurück, ehe er sie sehen konnte. In ihrer Panik fragte sie sich, warum ihr Mann gekommen war. Sie saß im Garten in der Falle, denn wenn sie ihn verlassen hätte, wäre sie für die Ankömmlinge deutlich zu sehen gewesen.
So beschloß sie, sich im Garten zu verstecken, bis er die Burg verließ, notfalls für den Rest des Tages, und daher lief sie ans hintere Ende des Gartens, kniete sich hinter die Lorbeersträucher und betete, Rolfe möge die Burg wieder verlassen und ihr ein Treffen mit ihm erspart bleiben. Aber anscheinend war der Himmel nicht geneigt, ihr diese kleine Bitte zu gewähren, denn wenige Minuten später hörte sie jemanden in den Garten kommen. Da sie sich nicht der Peinlichkeit aussetzen wollte, in ihrem Versteck ertappt zu werden, raffte sie ihren Mut zusammen und stand auf.
Sie hatte Glück. Sie sah ihn, ehe er sie entdeckt hatte. Ihr alter grüner Kittel fügte sich unauffällig in die Umgebung ein, und er sah ohnehin in die andere Richtung. Sie hatte sogar einen Moment Zeit, um ihre Fassung wiederzufinden, ehe er sich umdrehte.
Sie zuckte zusammen. Abgesehen davon, daß sie sich fürchtete, wußte sie, daß sie ungünstig aussah. Sie trug Arbeitskleidung, und ihre langen Zöpfe waren um ihren Kopf geschlungen, damit sie nicht auf die Erde hingen, wenn sie sich bückte. Selbst das Band, das ihr Haarnetz auf ihrer Stirn festhielt, war nur ein Streifen alten Leders. Schlechter konnte sie nicht aussehen, und so stand sie dem Mann gegenüber, vor dem ihr graute.
Als Rolfe seine Frau nicht sofort entdeckte, sagte er sich, es sei das beste, umzukehren und wieder fortzureiten. Er hatte keinen vernünftigen Grund für sein Kommen. Ein Impuls hatte ihn hergeführt, und er konnte es nur auf seine psychische und körperliche Ermattung schieben, daß er derart unbedacht handelte. Er hatte in der letzten Woche kaum geschlafen. Aber konnte er seiner Frau sagen, daß er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte? Daß er sie vermißte? Daß er wissen wollte, wie es ihr ging? Es war besser, wenn sie glaubte, daß es ihm gleichgültig war. Und doch stand er jetzt hier, strafte alle diese Überlegungen Lügen und suchte sie.
Das beste, was ihnen beiden zustoßen konnte, wäre gewesen, daß er sie endlich unverhüllt sah. Es war nicht unsinnig, darauf zu hoffen. Hier war sie unter ihren Leuten und würde sich vermutlich nicht vor ihnen verstecken. Das würde dem Geheimnis und seinem Verlangen nach ihr ein Ende machen.
In dieser Hoffnung drehte er sich um und versuchte ein letztes Mal, seine Frau hier zu finden, wo sie nach den Angaben ihres Dieners war. Er sah ein Mädchen, das er vorher übersehen haben mußte, weil ihre Kleidung der Farbe des Laubes zu ähnlich war. Es war nicht seine Frau. Gütiger Gott, wäre sie es doch gewesen! Als er ihr nahe genug gekommen war, stellte er verblüfft fest, daß sie außergewöhnlich hübsch war.
Nie hatte er eine so helle Haut gesehen, so zarte, rosige Lippen, eine so gerade kleine Nase und ein so bezaubernd ovales Kinn. Sie hatte nicht die roten
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