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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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die Hälfte«, sagte ich.
    »Ich nehm die andere«, meldete sich Jack sofort zu Wort.
    Ich achtete nicht auf ihn, sondern schob nur meinen Ellbogen zwischen ihn und meinen Teller. »Nimm die andere Hälfte, Mama.«
    »Gib sie Jack«, sagte sie.
    »Woher willst du wissen, ob es gut ist, wenn du es nicht probierst?«, wollte ich wissen. »Nimm.« Ich schob ihr das halbe Küchlein auf den Teller, ehe sie antworten konnte.
    Einen Moment lang schien sie protestieren zu wollen. Doch dann sah sie mich aus schmalen Augen an, als überlegte sie, welchen Schachzug sie als Nächstes machen sollte. »Ist gut«, sagte sie schließlich.
    Sie biss hinein, und ich begann, mein Küchlein zu essen. Es war süß und lecker. Wie immer.
     

3 Zikadenhüllen
    Jack
    Irgendwann gefiel Roosevelt auch Tante Celia – und zwar bereits lange, bevor sein Zug in Carbon Hill einfuhr. Tess war damals auf der Oberschule, ich musste noch ein Jahr zur Mittelschule gehen, und Virgie reiste für das Wochenende aus Livingston an, als Franklin und Eleonors Zug durch die Stadt kam. Später stellte sich heraus, dass früher einmal eine Stadtverwaltung im Vertrag mit der Frisco Line vereinbart hatte, bei jeder Zugfahrt müsse einmal in Carbon Hill gehalten werden. Jasper wurde übergangen, während wir Mrs. Roosevelt sehen durften. Pop, Tante Celia, die Mädchen und ich eilten zum Bahnhof, wie das der Großteil des Städtchens tat. Doch nur Mrs. Roosevelt verließ den Waggon, um sich der Menge zu zeigen, nicht ihr Mann.
    Die Leute trugen ihre Sonntagskleider, um für den Bruchteil einer Sekunde Mrs. Roosevelt zuwinken zu dürfen, die in meinen Augen unscheinbar wirkte. Tess fand sie großartig und Virgie hochnäsig. Tante Celia rief lauter als alle anderen – sie hatte seit Jahren niemanden mehr als Bolschewiken bezeichnet –, und als einige der Männer ihre Hüte in die Luft warfen, ließ sie sich mitreißen und warf ihren Hut ebenfalls hoch. Sie fand ihn danach nicht wieder. Aber offenbar hielt sie das für ihr Opfer am Altar der Roosevelts und erzählte diese Geschichte in den kommenden Jahrzehnten mit einem großen Sinn für Theatralik immer und immer wieder.
    Eine solche Neuverteilung der Karten, wie das damals überall in der Stadt stattfand, erlebte ich später nie mehr. Der New Deal hatte kaum jemandem geschadet. Vor der großen Depression mochten wir noch Setzlinge gewesen sein, aber inzwischen waren wir alle zu guten Demokraten herangewachsen, gewärmt durch den Strom der Tennessee Valley Authority und genährt durch die Works Progress Administration . In den frühen dreißiger Jahren waren die Gruben beinahe zum Erliegen gekommen, und der Ort hing zu fünfundsiebzig Prozent vom Bergbau ab – jedenfalls dem selbstgefälligen Brief der Stadtverwaltung nach zu urteilen, den diese an die Regierung schickte. Die Immobilienwerte sanken um sechzig Prozent. Dann jedoch spannte sich das präsidiale Sicherheitsnetz unter uns auf – mit 180 000 Dollar von der Regierung und 100 000 Dollar ortsansässiger Bürger. Roosevelts Arbeitsbeschaffungsprogramm verwandelte Carbon Hill und ließ es in neuem Glanz erstrahlen, so dass es kaum mehr wiederzuerkennen war. Wir bekamen Bordsteine, Bürgersteige und gepflasterte Straßen – lange Zeit über hatten wir nur fünf Blocks weit eine befestigte Straße –, ein Schwimmbecken und eine Turnhalle. Wir erhielten eine neue Oberschule, auf die Virgie und Tess gingen und die zwanzig Räume für achthundert Schüler hatte. Vor Roosevelt gab es in der Stadt kaum Toiletten im Haus, und aus den wenigen, die existierten, floss das Abwasser in die Gräben neben den Straßen und verursachte einen Gestank, der einem im Sommer fast den Atem raubte. Die neue Kanalisation löste dieses Problem endlich.
    Man konnte die Veränderung riechen, die der New Deal mit sich gebracht hatte, wenn man durch unseren Ort lief.
    Doch auch vor Roosevelt war Carbon Hill solide genug gewesen. Zumindest bautechnisch. Die drei kleinen Schweinchen hätten bei uns den Besuch des Wolfs jederzeit überstanden, denn sie hätten sich überall unter einem Dach verstecken können – ich kann mich nicht an mehr als drei Holzhäuser unten in der Stadt erinnern. Sonst gab es nichts als Ziegelbauten. Es hatte mehrmals Feuersbrünste gegeben, die einigen Schaden angerichtet hatten, doch dann schlug ein Wirbelwind im Jahr 1917 eine Schneise durch die Stadtmitte. Er zerstörte Kirchen und die Schule und weitere Gebäude. Einige Jahre später brannte bei

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