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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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dachte mir schon, dass unsere Liste zu einfach ist. Vielleicht sollten wir uns nicht um die Neugeborenen Gedanken machen und auch nicht darüber, wer so groß wie ein Haus ist. Wir sollten uns lieber überlegen, was für eine Art Frau das ist, die ihr totes Baby in einen Brunnen wirft.«
    »Eine verrückte«, sagte ich.
    Sie achtete nicht auf mich. »Keine, die ihrem Baby was antun wollte. Sie hat es wahrscheinlich geliebt.«
    »Sie könnte es aber auch schon vorher umgebracht haben. Vielleicht hat sie ihm einen Schlag auf den Kopf gegeben oder so.«
    Ich hatte in der Nacht zuvor von blauen Flecken und Prellungen geträumt. Nicht von meinen eigenen. Sondern nur von blasser Haut und violetten Flecken. Überall tropfte Wasser herab und ließ die Flecken glänzen. An mehr konnte ich mich nicht erinnern.
    Virgie schüttelte den Kopf. »Papa meint, dass es keine Anzeichen für so was gegeben hat. Wahrscheinlich war das Baby einfach krank.«
    In letzter Zeit hatte es genug geregnet, um den Fluss bis ganz oben zu füllen. Die Planken, über die wir liefen, waren feucht. Das Wasser berührte sie beinahe von unten, und von Zeit zu Zeit schwappte es über das Holz. Wir hielten beide unsere Röcke hoch.
    »Ich spring lieber über die Steine«, sagte ich. »Macht mehr Spaß.«
    »Das könnten wir jetzt gut gebrauchen – dass du reinfällst«, erwiderte Virgie. Sie war bereits zur Hälfte hinübergegangen. Ich glaube, weil sie sich in diesem Moment umdrehte, um mich finster anzusehen – was sie von Papa übernommen hatte –, verlor sie ihr Gleichgewicht. Oder vielleicht trat sie auch auf ein Blatt oder so. Jedenfalls stürzte sie mit derselben Langsamkeit in den Fluss, mit der ein Glas Milch vom Tisch fällt, wenn man es umgestoßen hat.
    Der Fluss reichte nirgendwo tiefer als bis zur Taille, aber sie wurde trotzdem völlig durchnässt. Es gelang ihr, den Kopf über Wasser zu halten, so dass ihre Locken nicht nass wurden, während sie mit der rechten Hand ihren Schulranzen in die Luft hielt. Doch jeder Zentimeter unterhalb ihres Halses war im Wasser. Lange blieb sie nicht sitzen. Ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte, hatte sie sich bereits wieder erhoben und watete zum Ufer. Oder vielmehr stampfte sie wütend zum Ufer.
    »Oh«, war alles, was ich herausbrachte. »Oh, Virgie!« Doch als ich sie genauer ansah und bemerkte, wie ihr das Wasser vom Kleidersaum herabtroff, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken.
    »Das ist nicht lustig«, sagte sie. »Jetzt komm ich zu spät. Ich muss nach Hause und mich umziehen.« Doch auch sie hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Beinahe lachte sie sogar, doch dann begann sie prustend zu husten, und ich sah die Gänsehaut auf ihren Armen.
    »Du wirst dich erkälten«, meinte ich und machte mir auf einmal Sorgen. »Lauf schnell nach Hause. Ich sag deiner Lehrerin Bescheid.«
    »Aber bloß nicht vor der Klasse!«
    »Gut, dann sag ich’s ihr leise.« Sie beschloss, mir zu glauben, drehte sich um und rannte los. Kurz bevor sie die Straße erreichte, rief ich ihr noch einmal nach. »Wär besser gewesen, über die Steine zu hüpfen!« Aber sie wandte sich nicht mehr um.
    Ich lief problemlos auf Zehenspitzen über die Planken. Es ging schneller, als über die Steine zu springen, und mir blieb nicht viel Zeit, wenn ich zuerst in Virgies Klassenzimmer wollte. Auf der anderen Seite des Flusses rannte ich los, wollte aber wieder langsamer werden, sobald ich in die Nähe von Leuten kam. (Ich bewegte mich im Wasser besser als an Land. Meine Beine waren etwas zu lang für mich, und meine Knie waren immer blutig geschlagen, weil ich ständig über meine eigenen Füße stolperte. Manchmal kam es mir vor, als hätte ich mehr als nur zwei.)
    Virgie glaubte also, dass die Brunnenfrau kein böser Mensch war. Aber wenn sie nicht böse war, musste sie doch verrückt sein. Ich konnte es mir anders nicht erklären – keine Mutter würde sonst so etwas tun. Trotzdem konnte ich Virgies Stimme in meinem Inneren hören: Wenn es so offensichtlich ist, warum fällt sie dann nicht auf? Böse oder verrückt musste anders aussehen, als wir uns das vorgestellt hatten.
     
    Virgie
    Ich verspätete mich nur um eine halbe Stunde. Mama half mir, mein nasses Kleid und meine Unterwäsche auszuziehen. Das war, nachdem ich die Hintertür aufgerissen – ich blieb auf der Veranda stehen, damit ich nicht die Böden nass machen würde – und ihr erklärt hatte, dass ich in den Fluss gefallen war.
    Mama sah vom

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