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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Frühstücksgeschirr auf, das sie gerade abwusch, und blinzelte überrascht. Doch dann stand sie auch schon mit einem Handtuch neben mir, ehe ich ein weiteres Wort sagen konnte.
    »Zieh die Schuhe aus, und lass sie draußen stehen«, befahl sie. »Und wieso bist du in den Fluss gefallen und nicht Tess?«, wollte sie als Nächstes wissen.
    Im Schlafzimmer stand ich nur in das Handtuch gehüllt da und sah zu, wie Mama nach einer Unterhose und Strümpfen für mich suchte. »Kann mich nicht erinnern, dass du schon mal in den Fluss gefallen wärst«, sagte sie. »Du hast dir ja kaum je deine Knie angekratzt.«
    Ich stand da und wartete.
    Sie schien nur überrascht zu sein und nicht wütend. Einen Moment lang hielt sie meine Hände und legte dann ihren Handrücken auf meine Stirn, um sicherzustellen, dass mir warm genug war – allerdings nicht so warm, dass es auf ein Fieber hindeutete. Danach gab sie mir einen Kuss auf die Stirn und einen leichten Klaps auf mein Gesäß, als ich mich der Tür zuwandte.
    Ich mochte es nicht, nass oder zerzaust oder spät dran zu sein, und setzte mich deshalb so leise wie möglich auf meinen Platz, als ich in der Schule eintraf. Tess musste mit Miss Etheridge gesprochen haben, denn sie verlor kein Wort darüber, während man gewöhnlich nach vorne gerufen wurde, wenn man sich verspätet hatte. Eine zweimalige Verspätung brachte einem ein paar Schläge mit dem Lineal auf die Fingerknöchel ein. Nun ja, das stimmte nicht ganz: Miss Etheridge verwendete nie das Lineal, aber Jacks Lehrer hatte deutliche Spuren auf Jacks Haut hinterlassen, nachdem Jack im Jahr zuvor die Zeit vergessen und vor dem Unterricht Flusskrebse gesucht hatte.
    Obwohl ich drei Plätze vom Kanonenofen entfernt saß, konnte ich deutlich die Wärme spüren, die er ausstrahlte. Wenn man zu nahe saß, wurde einem zu schnell zu heiß, so dass man nach einer Weile ganz benommen und benebelt war, weil er so vor sich hin bullerte. Drei Plätze dazwischen war genau die richtige Entfernung.
    Miss Etheridges Augen wanderten in meine Richtung, und sie deutete ein Lächeln an, um mir zu zeigen, dass ich nichts zu befürchten hatte. Ich fragte mich, wie alt sie wohl war. Um ihre Augen zeigten sich nur wenige Falten. Sie war recht hübsch, schlank und ordentlich mit Haaren in der Farbe eines Pennys. Ella und Lois fanden sie etwas reserviert, aber mich störte das nicht. Auf ihre stille, ruhige Weise war sie sehr freundlich und hatte nie etwas dagegen, nach der Schule noch dazubleiben und eine Schulaufgabe zu besprechen. Und wenn sie laut vorlas, war sie geradezu schön. Ihre Augen leuchteten dann, und die Wangen schimmerten rosa. Ihre Stimme verwandelte sich in etwas Neues und Starkes und Faszinierendes, wenn sie die Worte eines anderen las, anstatt ihre eigenen auszusprechen.
    Ich fragte sie einmal, ob sie denn gern Lehrerin sei, und sie antwortete: »Ja, Virgie. Ich bin es sogar sehr gern.« Dann wollte sie von mir wissen, ob ich gerne eines Tages Lehrerin werden wolle, und ich antwortete, dass ich mir auch vorstellen könne, es würde mir gefallen. Oder so ähnlich. Eigentlich meinte ich damit nur, ich wüsste, dass ich eines Tages einen Beruf ergreifen müsse und dass mir das Unterrichten mehr zusagen würde als zum Beispiel eine Arbeit als Krankenschwester. Sie erklärte mir, ich wäre begabt und klug und noch einige andere Dinge, die ich gern hörte. Doch gleichzeitig musste ich immer daran denken, wie sie aussah, wenn sie Shakespeare oder Emily Dickinson vorlas. Meine Kusine Naomi las die ganze Zeit, aber ich war nie davon angesteckt worden. Ich fragte Miss Etheridge, ob sich das ändern würde, wenn ich erst einmal Lehrerin war. Vielleicht hatte es etwas mit der Ausbildung zu tun.
    »Bestimmt sogar.«
    Sie liebte das Lesen so sehr, dass ein Licht in ihrem Gesicht aufzuleuchten schien. Sie liebte es auf eine tiefe, unbekannte Weise, die Welten von einem Leben entfernt war, in dem man Wasser heraufholte, Böden wischte oder so lange nähte, bis einem die Augen von dem schlechten Licht schmerzten.
    Natürlich würde Miss Etheridge ihren Beruf aufgeben müssen, wenn sie heiraten wollte. Und wenn sie zu lange unterrichtete, würde sie vielleicht niemals heiraten, weil sie dann eine alte Jungfer war und sie keiner mehr haben wollte. Eine gebildete alte Jungfer war das Schlimmste, was es gab. Sie stand ganz unten auf der Liste. Tante Celia sagte, dass kein Mann eine Frau wolle, die sich mehr für Bücher als für ihn interessiere.

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