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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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nicht die leiseste Ahnung«, sagte er.
    Auf dem Weg nach Hause dachte ich über seine Antwort nach. Und darüber, dass wir in dieser Nacht so viele Wörter gesagt hatten, wie sie normalerweise für ein ganzes Jahr reichten.
     
    Tess
    In den Lungen des Babys war also kein Wasser gewesen. Die Ärzte hatten es aufgeschnitten, weil Sheriff Taylor herausfinden wollte, wie es gestorben war, ehe er anfing, Frauen ins Gefängnis zu werfen. Und es hatte kein Wasser in seinen Lungen gehabt. Überhaupt keines. Das Baby hatte also nicht mehr geatmet, als es in den Brunnen geworfen worden war. Es war schon tot gewesen, ehe es im Wasser aufgeschlagen war. Diese Tatsache ließ uns unsere Liste noch einmal überdenken.
    »Was heißt das genau, Virgie?«
    Ich schlenkerte meinen Schulranzen an zwei Fingern durch die Luft, während sie den ihren wie eine Handtasche über der Schulter trug. Ehe wir losgelaufen waren, hatten wir uns noch am Feuer in der Küche gewärmt. Der Schulweg dauerte gerade lange genug, um die Wärme wieder zu verlieren und für den nächsten heißen Ofen bereit zu sein.
    »Ich hab drüber nachgedacht«, antwortete Virgie. »Es heißt, dass es kein Mord war. Ich hab gedacht, dass wir nach einer Frau suchen müssen, die ihr Baby loswerden will – nach jemand, der aus Gemeinheit oder aus Erschöpfung oder Verzweiflung so gehandelt hat. Aber vielleicht war sie in Wirklichkeit gar nicht so verzweifelt. Vielleicht war sie etwas ganz anderes.«
    »Was denn?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Dann hat sie also ein totes Baby in unseren Brunnen geworfen.« Knirsch, knirsch … Ich zertrat Laub unter meinen Füßen. »Das ist genauso verrückt, wie ein lebendes Baby in unseren Brunnen zu werfen.«
    »Aber es ist was anderes«, entgegnete sie.
    »Und was?«, erwiderte ich genauso stur. Ich verstand nicht, wieso sie Verrücktheit in unterschiedliche Bereiche teilen wollte. Wir hatten nach einer verrückten Frau gesucht und taten das immer noch.
    »Weiß nicht.« Sie hielt mich am Arm fest und blickte die Straße hinunter zur Schule. Die Jungs spielten gewöhnlich draußen, bis es klingelte, und manchmal standen auch die Eltern der kleineren Kinder noch zusammen und plauderten miteinander. »Hoffentlich ist heute Morgen niemand draußen.« Sie kaute auf ihrer Lippe herum, während sie weiterlief und mich in die entgegengesetzte Richtung zog. »Komm, gehen wir heute mal die lange Strecke. Ich hab keine Lust, irgendwelche Leute grüßen zu müssen.«
    Ich verstand nie, warum Virgie es als solche Last empfand, anderen zuzuwinken und mit ihnen reden zu müssen. Aber ich folgte ihr trotzdem zu den Bäumen beim Fluss, wo uns niemand etwas zurief außer den Eichhörnchen. Virgie liebte den Wald. Sie war immer lieber in Gesellschaft der Bäume als in der von Menschen.
    Ich war nicht sonderlich darauf erpicht, inmitten der Stämme und Äste und Dornensträucher zu sein. Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, freiwillig in den Wald zu gehen. Hier schien es inzwischen dunkler zu sein als früher, und man wusste nie, was sich dort versteckte. Jack hatte mich mit seinem Gerede darüber, warum wir nie Feen im Wald sahen, zum Nachdenken gebracht. Ich nahm jetzt an, dass etwas sie auffraß. Vielleicht eine Art Eidechse oder eines dieser Opossums mit den scharfen Zähnen. Eigentlich glaubte ich eher an ein Opossum mit roten Augen und Rattenschwanz. Opossums konnten sich mit dem Kopf nach unten an einen Baum hängen und die Feen direkt in der Luft fangen, ihnen die Flügel abreißen und sie dann gierig auffressen wie Popcorn. Die Flügel waren vermutlich das Schmackhafteste. Wenn man böse war.
    Es war ein einschneidendes Erlebnis für mich, mir darüber klar zu werden, dass es auch böse Zauberwesen geben musste, die gegen die guten kämpften. Nach kürzester Zeit dachte ich an nichts anderes mehr.
    »Vielleicht haben wir nie erfahren, dass sie schwanger war«, meinte Virgie, während ich mich nach roten Augen umsah. »Vielleicht hat sie es versteckt.«
    »Versteckt?« Jetzt hatte sie wieder meine Aufmerksamkeit, und schon bald kam mir eine Idee. »Dann suchen wir also nach einer großen, dicken Frau?«
    Sie runzelte die Stirn und stieg vorsichtig über einen großen morschen Ast. »Sie könnte auch ein Korsett angehabt haben.«
    »Aber es wär einfacher, so was zu verstecken, wenn man dick ist. Wir sollten eine Liste mit dicken, schweren Frauen machen.«
    Sie runzelte noch immer die Stirn und begann, auf ihrer Lippe herumzukauen. »Ich

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