Wenn Die Nacht Anbricht
Vogel in den Himmel gezeichnet.«
Ich sah in aller Ruhe meinen Arm an, winkelte ihn immer wieder an und streckte ihn aus. Sie hatte Recht. Wenn ich auf mehrere spitze Steine gefallen wäre, hätte ich einen ganzen Schwarm von Vögeln auf meinem Arm gehabt, kleine Vs, die versuchten, zu meinem Handgelenk hinunter- oder zu meiner Schulter hinaufzufliegen.
»Zeig mir noch mal deine«, sagte ich. Doch diesmal wirkte sie nervös und verlegen. »Bitte«, fügte ich vorsichtshalber hinzu.
Sie griff mit der Hand an ihre Bluse, zog sie aber nicht hoch.
»Nur kurz«, meinte ich in einem Tonfall, den ich für besonders lieb hielt. Mama nannte es meine Jammerstimme, und das Einzige, was ich von Virgie bekam, wenn ich so sprach, war ein kurzes Reißen an meinen Haaren.
Aber bei Lou Ellen funktionierte sie. Sie zog ihre Bluse einige Zoll hoch, so dass ich noch einmal ihre Narbe begutachten konnte. Sie war rau und erhöht und wirkte noch immer gereizt – ganz und gar nicht wie etwas, das schon lange vorbei war.
»Tut das nicht weh?«, wollte ich wissen.
Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst sie anfassen, wenn du willst.«
Sie fühlte sich nicht wärmer als mein Finger an, war auch nicht glitschig oder schleimig oder trocken wie eine Schlangenhaut. Sie fühlte sich mehr wie ein Automobilsitz als wie ein Mädchen an. Es kam mir gar nicht vor wie echte Haut. Die Narbe war anders als alles, was ich bisher berührt hatte, und ich wollte einerseits sofort meine Hand zurückziehen und sie andererseits so lange dort behalten, wie es Lou Ellen mir erlaubte. Doch dann drückte ich noch einmal mit meiner Fingerkuppe dagegen und stützte mich dann mit beiden Händen auf der Veranda ab.
»Wetten, dass keiner so eine hat wie du?«, sagte ich. »Ich hab so was noch nie gesehen.«
Sie zog ihre Bluse wieder nach unten. »Findest du sie hässlich?«
»Nein«, erwiderte ich, und das stimmte. »Ich find, sie sieht wie ein Band aus. Nicht wie ein Seidenband, sondern wie eines dieser knittrigen Bänder. Wie Taft oder so.«
Sie zuckte mit den Achseln und wandte das Gesicht ab, so dass ich nicht sehen konnte, ob sie sich freute oder nicht. Ich wartete auf ihre Aufforderung, noch mehr über das Band zu erzählen, aber sie fragte nicht nach.
Wir spielten weiter.
Als die letzten Sonnenstrahlen verschwanden und der Mond bereits am Himmel zu sehen war, saßen nur noch Lou Ellen und ich auf den Baumwollballen und ließen die Beine baumeln. Diesmal war die Baumwolle ein Felsen, der bis in die Wolken ragte, und die Wespen unter dem Dach waren Adler, während der Verandaboden ein brennendes Höllenloch war, in dem man verbrannte, wenn man hineinfiel. Jack war ziemlich wütend geworden, als er knusprig gebraten wurde, und war zusammen mit Eddie davongestürzt.
»Hat Spaß gemacht«, sagte Lou Ellen. »Danke für die Einladung. Aber Mama macht sich Sorgen, wenn wir nicht bald nach Hause kommen.«
»Seid ihr nur zu zweit zu Hause? Du und Eddie?« Ich fand es seltsam, dass ich nirgendwo auf dem Hof andere Kinder gesehen hatte.
»Nein, ich hab noch vier ältere Brüder. Die sind aber alle erwachsen und aus dem Haus. Jetzt sind nur wir noch da. Und meine Großmutter. Sie wohnt bei uns, seitdem Großpapa tot ist. Und meine Tante Lou. Sie ist diesen Sommer bei uns eingezogen.«
»Wieso?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Tante Celia und Tante Merilyn eines Tages beschließen würden, mit uns zusammenzuleben.
»Weiß nicht. Sie hat früher bei Großmama gewohnt, und Großmama ist bei uns eingezogen, als Großpapa starb. Das ist schon einige Zeit her. Aber Tante Lou – ich bin nach ihr genannt – blieb bis letzten Sommer im Familienhaus.«
»Meine Tante Celia wohnt auch mit meiner Großmutter zusammen. Wieso ist deine Großmutter nicht bei deiner Tante Lou geblieben?«
»Mama meint, dass sie gern ihre Enkel um sich hat. Und Papa meint, dass Tante Lou für jeden eine Plage ist, der allein mit ihr zusammenleben muss.«
»Ist sie eine Plage?« Ich fragte mich, was das wohl bedeutete.
Lou Ellen zuckte mit den Achseln. »Na ja. Großmama hat mein Bett bekommen, und Tante Lou das von Eddie. Vielleicht ist sie also für ihn eine Plage. Und sie ist ziemlich hysterisch. Bei der Beerdigung meines Großvaters mussten meine Onkel sie raustragen, weil sie so viel geweint hat.«
»Hast du ihn gut gekannt?«, wollte ich wissen.
»Ich hab ihn manchmal besucht. Warum?«
»Ich kenn niemand, der gestorben ist. Jedenfalls nicht richtig. Wir gehen immer auf
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