Wenn Die Nacht Anbricht
tun. Sie dachte nicht oft an jemand anderen außer an sich selbst – nicht so wie Virgie, die sich um jedes Kind, jeden Erwachsenen und jeden Schmetterling kümmerte, dem sie begegnete. Aber vielleicht lastete das schlechte Gewissen wegen des Fladens noch immer schwerer auf Tess, als mir bewusst gewesen war. Vielleicht hatte Leta Recht gehabt, und es hatte den Kindern gutgetan, mitzuerleben, dass es manche Menschen viel schwerer hatten als wir.
Oder vielleicht kannte ich Tessie einfach auch nicht so genau, wie ich das geglaubt hatte.
»Lou Ellen Talbert sieht wie ein Streifenhörnchen aus, wenn sie ihre Zunge rausstreckt«, verkündete sie aus dem Blauen heraus. »Oder wie ein Opossum oder so was Ähnliches.«
Tessie. Erleichterung mischte sich in mein Lachen, während ich so tat, als würde ich nach ihrer Zunge fassen. Meine Finger hielten kurz vor ihren zusammengepressten Lippen inne, und sie musste lachen.
»Aber ich mag sie«, erklärte sie, sobald sich meine Hand wieder in sicherer Entfernung auf dem Verandageländer befand. »Sie ist wirklich nett. Und ich finde, du solltest Mr. Benton einladen. Es wär schön für dich, auch Gesellschaft zu haben«, fügte sie hinzu.
Ich bemühte mich ebenfalls um einen ernsten Tonfall. »Danke, dass du das sagst. Ich werd bestimmt drüber nachdenken.«
Sie stand eine Weile neben mir und kam sogar ein wenig näher, bis sie sich schließlich gegen mich lehnte, so dass ihre Schulter meine Hüfte berührte. Ich wusste, dass ich zum Himmel stank, aber das schien sie nicht zu stören. Wir sprachen nicht weiter, wogegen ich nichts hatte. Leta war diejenige, mit der die Mädchen ihre Geheimnisse teilen konnten, während ich nicht dazu neigte, lange Gespräche zu führen, vor allem wenn diese vermutlich über Kleider, Puppen oder Jungs gegangen wären. Allerdings mochte Tess keine Puppen, soweit ich wusste. Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, dass sie sich jemals eine gewünscht oder auch nur mit einem Maiskolben in Puppenkleidung gespielt hatte. Ich fragte mich, ob sie wohl schon an Jungs dachte. Wann fing das eigentlich an? Leta würde es wahrscheinlich wissen.
Wenn ich über etwas informiert sein musste, würde sie es mir garantiert rechtzeitig mitteilen. Und bis dahin konnte ich es genießen, nicht zu reden, sondern nur mit Tess dazustehen, ihre Schulter an meinem Körper zu spüren und ihre kleinen Atemzüge zu hören.
Irgendwann richtete sie sich auf und wandte sich der Küchentür zu. Aber ich wollte nicht, dass sie schon im Haus verschwand.
»Warum bist du rausgekommen, Tess?«, rief ich ihr hinterher, so dass sie mit einer Hand auf dem Türknauf stehen blieb. »Fehlt dir dein Brunnen?«
Zum ersten Mal warf sie einen Blick in seine Richtung, neigte den Kopf zur Seite und ließ so ihre Locken herabfallen. Sie starrte einen Moment lang darauf. Dann trat sie wieder einige Schritte auf mich zu, wodurch sie auch dem Brunnen näher kam. Doch sie ging nicht zu ihm hin.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Ich hab gar nicht an den Brunnen gedacht.«
»Wieso bist du dann rausgekommen?«
Sie neigte den Kopf zur anderen Seite und lächelte zu mir hoch. Ich sah ihre Antwort, ehe ich sie hörte. Ich sah sie in dem spitzen Kinn und in ihrem Mädchenlächeln, das ihre ganzen Zähne entblößte.
»Weil du hier draußen bist«, sagte sie.
Virgie
Ich fischte das hart gekochte Ei aus dem Topf, und Mama warf die Ofenkartoffeln von einer Hand in die andere, bis sie jeweils eine in jede Essensdose getan hatte. Ich wagte es nicht, auch die Eier zu werfen. Tess, Jack und ich bekamen jeweils ein Ei und Papa drei, zusammen mit der größten Kartoffel. Ich wickelte seine Eier in ein Handtuch, damit sie nicht kaputtgingen. Sie kamen in den Essensteil, während Mama in den anderen Behälter frisches Wasser füllte. Das Frühstücksgeschirr hatten wir bereits gespült und abgetrocknet, und Mama räumte nun die letzten Untertassen weg. Auf dem Tisch lag nicht ein einziger Brösel. Die makellose Ordnung ließ mich an Tante Merilyn denken.
»Mama, hat’s dir eigentlich Spaß gemacht, dich mit Jungs zu treffen?«
»Hing vom Jungen ab«, meinte sie.
»Aber es hat dir Spaß gemacht?«
»Du magst den Olsen-Jungen also auch nicht viel mehr als Henry Harken?«
Ich überlegte. »Doch, Ma’am, ich glaub schon, dass ich ihn netter find als Henry. Er ist höflich und redet nicht so viel – aber trotzdem genug –, und wenn ich ihn anlächle, lächelt er doppelt so stark
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