Wenn Die Nacht Beginnt
am Tag und manchmal auch mehr. Jedenfalls wird Gerard nicht zulassen, dass du in dem Fall gegen ihn arbeitest, hinter seinem Rücken. Schlag dir das aus dem Kopf.« Sie setzt zum Widerspruch an, aber er kommt ihr zuvor: »Iss dein Frühstück, Mädel, und hör auf einen alten Mann. Jeden Tag passieren eine ganze Menge Sachen, die mindestens so ungerecht sind wie das, was Steve Belcher gerade erlebt. Auf der ganzen Welt. Wir können es nicht verhindern, egal, wie sehr wir es uns wünschen.«
»Ach, Blödsinn«, widerspricht sie. »Also wirklich, Hack. ›Alter Mann‹, was du nicht sagst! Noch mal: Du verrätst mir, wohin ich gehen soll, wonach ich suchen soll, mit wem ich reden soll, und ich mache es. Ja, ich hab einen Job, aber ich habe daneben auch noch eine Menge Zeit. Außerdem ist Gerard ein Sexist. Er gibt mir nie einen eigenen Fall. Das Äußerste ist, dass ich verschwundenen Kindern nachspüren darf. Ein Fall wie dieser ist Männerarbeit, stimmt's?«
»So ist Phil eben«, knurrt Bohannon. »Das ist besseres Rösti, als Stubbs jemals gemacht hat. Was ist dein Geheimnis?«
»Die Kartoffeln vorher nicht kochen. Roh raspeln.« Sie schüttelt ungeduldig den Kopf. »Lenk nicht vom Thema ab, zum Kuckuck. Hack, Fred May sagt, es ist hoffnungslos, er kann ohne dich nicht gewinnen.«
May ist der örtliche Pflichtverteidiger – ab und zu, wenn hier in der Gegend einmal ein Pflichtverteidiger gebraucht wird. Er ist dick und liebenswürdig, widmet den größten Teil seiner Zeit seiner Frau und den Kindern und dem Schutz der Wale, der Wölfe und der Wildnis. Bohannon hat schon oft als sein Ermittler fungiert.
»Schau mich nicht so an«, sagt er. »Ich kann es nicht machen, Teresa. Ich habe Pferde, um die ich mich kümmern muss. Sie können sich nicht gegenseitig das Futter austeilen oder selbst den Stall ausmisten, das weißt du. Sei vernünftig.«
»›Vernunft‹ wird Steve Belcher nicht retten.« Tränen stehen in ihren Augen. »Die Stadt kann es nicht erwarten, ihn loszuwerden, das weißt du doch.«
»Und ich kann sie nicht daran hindern.« Bohannon steht auf, nimmt seinen Teller und den ihren – sie hat noch kaum etwas gegessen – und trägt sie zur Spüle. Er bringt die Kaffeekanne und füllt noch einmal ihre Tassen. Seine ganze Haltung verrät Widerwillen, als er sich hinsetzt. »Was, zum Teufel, hat Cedric Lubowitz hier überhaupt gesucht?«
»Das habe ich mir gedacht, dass Sie das wissen wollen«, sagt eine scharfe Stimme von der Tür her. Im Türrahmen steht Belle Hesseltine, im Rücken das erste schwache Licht des Sonnenaufgangs. Sie ist Ärztin und zog vor vielen Jahren nach Madrone, um sich zur Ruhe zu setzen, ist aber inzwischen mehr beschäftigt als je zuvor. Ein mageres, zähes, altes Mädchen, und sie ist für viele die größte Stütze – sie vermittelt Hoffnung und Mut und Anteilnahme. Auch für Bohannon. »Ich kam bei der Außenstelle vorbei, um es dem Lieutenant zu sagen, aber er ist noch nicht da.« Sie geht zum Tisch, zieht einen Stuhl hervor, setzt sich und sieht T. Hodges an. »Sie waren auch nicht da.« Ihre Schultertasche stellt sie auf den Boden. »Also dachte ich mir, dass Sie der richtige Ansprechpartner wären, Hack.«
»Nun, da täuschen Sie sich«, sagt Bohannon. »Aber ich freu mich trotzdem, Sie zu sehen. Kaffee?«
»Ich mach das«, sagt T. Hodges, springt auf und holt die Kanne. »Bringen Sie ihm bei, dass er dem armen Steve Belcher helfen muss.«
Belle Hesseltine sieht Bohannon kritisch an. »Beibringen? Was heißt das? Haben Sie nicht vor …? Aber der Mann ist erledigt, wenn sich nicht jemand dazwischen stellt. Er hat keine Chance. Allein kommt er nicht klar. Er kriegt seine Gedanken gar nicht zusammen. Er kann sich nicht wehren. Hack, ich bin schockiert.«
»Belle, ich sitz hier fest. Ich muss diesen Laden allein am Laufen halten. Sobald der Arbeitstag vorbei ist, kann ich nur noch schlafen.«
Belle sieht zu, wie T. Hodges einen Kaffeebecher für sie hinstellt. »Was ist aus meinem tätowierten Engel geworden?«
»Kelly? Hat gestern Früh die Flügel ausgebreitet und ist weggeflogen. Ich hab Gerard gesagt, es könnte zur selben Zeit gewesen sein, als Lubowitz erschossen wurde. Phil sieht aber keine Verbindung. So wie ich ihn kenne, macht er sich nicht mal die Mühe, das zu untersuchen.« Es ist riskant, und er weiß es auch, aber er zündet sich trotzdem eine Zigarette an. Die alte Frau funkelt ihn missbilligend an, aber diesmal schimpft sie ihn nicht aus. Und
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