Wenn Die Nacht Beginnt
sollte. Habe ich schon gesagt, dass er groß war? Mir fehlt in Strümpfen nur ein Haarbreit zu ein Meter achtzig. Man hätte uns für Bruder und Schwester halten können, mit unseren langen Gliedmaßen, den blauen Augen und den honigfarbenen Ringellöckchen.
Das Wichtigste an William, dem Architekten, war, dass ich mich bei ihm geborgen fühlte. Vom ersten Augenblick an fühlte ich mich bei ihm zu Hause. Nicht so wie in den Häusern, in denen ich mich in meiner Kindheit flüchtig aufgehalten hatte, als ich kaum meine Spielsachen einpacken konnte, bevor mein Kolibri von einer Mutter uns zum nächsten Nest umsiedelte, zum nächsten Ehemann. Willam war das Zuhause, von dem ich immer geträumt hatte, ein Heim, dessen Fenster in der Dämmerung idyllisch-goldene häusliche Szenen einrahmten. Eine behagliche Küche mit dem Suppentopf auf dem Ofen, ein Buch, das aufgeschlagen auf einem Kniekissen vor einem Sessel lag; ein Mann und eine Frau, die über einen Tisch hinweg plaudern und deren Fingerspitzen sich berühren.
Es hätte mir auffallen sollen, dass William hauptsächlich Hochhäuser entwarf. Sie können sein Werk in den großen amerikanischen Städten sehen, schnittig und phallisch und besiedelt von Männern in Anzügen, die Bargeld kneten.
An unserem missglückten Hochzeitstag, als William schließlich anrief – zwei Stunden, nachdem die Gäste, mit Krabbenbrötchen angefüllt und mit Champagner befeuchtet, gegangen waren (Mutter hatte keinen Grund gesehen, ein ausgezeichnetes kaltes Büfett zu verschwenden) –, sagte William, dass es ihm Leid tat, sehr, sehr Leid tat, schrecklich Leid, aber ob ich mich an den Versicherungsmogul erinnerte, dessen Büroräume er entworfen hatte? Nun, es schien, als ob der Mann ganz plötzlich tot umgefallen sei, und seine wirklich-recht-reizende und viel-jüngere Witwe war schrecklich außer sich. »Du weißt doch, ich kann eine schöne Frau nicht weinen sehen«, hatte William gesagt. »Es bricht mir das Herz. Also bot ich ihr mein Taschentuch an, und dann …«
Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Mensch so viel Schmerz aushält. Jede Zelle meines Körpers schrie. Meine Lungen grämten sich, meine Haut, meine Nagelhäutchen. Kummer erfüllte meine Nächte wie meine Tage, überfiel mich aus Fotografien, aus Briefen. Ein einzelnes, goldenes Haar von William sprang mich hinterhältig von einem Pullover an.
Die Zeiger jeder Uhr in meiner Wohnung blieben in der Stunde, in der ich verlassen worden war, stehen. Wenn sie sich danach jemals bewegten, dann habe ich sie nie dabei erwischt. Jede Stunde war wie hundert langsame, mörderische Jahre auf der Folterbank. Aber es war unmöglich, mich von meinem Nagelbrett zu erheben. Ablenkung, sagte Mutter. Ich brauchte Ablenkung. Ich sollte ausgehen. Aber wie hätte ich ausgehen können?
Ich war blind vor Weinen, aber ich konnte immer noch das Flüstern hören: Georgie Ann, das arme Ding. Verlassen. Altar. Bedauernswert. Ich würde sterben.
Per Telefon kündigte ich meine Arbeitsstelle. »Dr. Wilson«, krächzte ich den Leiter der Englischabteilung an, »ich habe die Wurmkrankheit. Ich komme nicht wieder.«
Er protestierte natürlich, aber ohne Erfolg. Wie konnte ich mich vor eine Klasse schwitzender Studenten im Grundstudium stellen, um ihnen die sexuelle Metaphorik in Vergebene Liebesmüh zu erklären, oder mit Byron, Shelley und Keats, den Drei Musketieren der Romantik, die geheimen Schlupfwinkel des Herzens zu durchforschen?
Ich konnte es nicht. Eine ziemlich lange Zeit konnte ich nichts anderes tun, als über mein eigenes Hinscheiden nachzudenken.
Ich lag auf meinem Bett und betrachtete die alte Jagdflinte meines Vaters. Ich zog sie aus den Tiefen meines Schranks hervor, lud sie und spannte sie immer wieder. Dieses Spannen verzauberte mich. Es lockte mich wie eine Sirene, aber da ich in dieser Hinsicht die Tochter meiner Mutter war, konnte ich den Gedanken an meine schneeweißen Keramikfliesen, die mit Blut, Zähnen, Knochen und Gehirnmasse bespritzt waren, nicht ertragen.
Ich träumte von Virginia Woolf, und an einem grauen Nachmittag schwankte ich stundenlang mit den Manteltaschen voller Steine am Ufer des Percy-Priest-Sees entlang. In meiner Vorstellung jedoch sah ich mein bleiches, aufgedunsenes Gesicht, von Flussbarschen angeknabbert, und mein Stolz ließ nicht zu, dass irgendjemand mich jemals so sehen sollte. Also schleppte ich mich zurück nach Hause und grübelte über den Etiketten von Ameisenvernichtern und Ammoniak und
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