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Wenn Die Nacht Beginnt

Wenn Die Nacht Beginnt

Titel: Wenn Die Nacht Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
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zählte die Schlaftabletten, für die mir mein Hausarzt ein Rezept gekritzelt und mir am ›Jüngsten Tag‹, auf den Stufen von St. Philip's in die Hand gedrückt hatte. Dabei hatte er einen Krümel Krabbenbrötchen auf der Lippe gehabt.
    Dann gab es natürlich auch die Tage, an denen meine Pein sich umkehrte und nach außen richtete wie eine Wünschelrute, mit voller Kraft voraus gegen William. Und ich sagte mir einen Rosenkranz von Linderungsmitteln her: Pistolen, Messer, Stricke, Bomben. Aber diese Gedanken verflogen, und am Ende wählte ich Abgeschiedenheit, Einsamkeit, Rückzug. Ich zog mich einfach sehr früh aus der Welt zurück.
    Rilke drückte es am besten aus: »… deine Einsamkeit wird dir Halt und Heim sein … und dort wirst du all deine Auswege finden.«
    Ich zog mich in mein Heim zurück. Ich lebte recht komfortabel in einer weitläufigen Penthouse-Wohnung oben in einem von Nashvilles ältesten Apartmenthäusern, einer Art grauem Elefanten, mit leicht silbrig gewordenem Holz verkleidet. Ich hatte ein L-förmiges Wohnzimmer mit Glastür, die zu einem Esszimmer mit hoher Decke führte, dazu zwei weitere, riesige Zimmer und Schränke in rauen Mengen. Ich war hier eingezogen, als ich nach meinem Studienabschluss nach Nashville zurückgekommen war, und ich hatte nie irgendeinen Grund gehabt, wegzuziehen.
    Jetzt dachte ich mir, ich würde niemals ausziehen. Ich hatte ein wenig Geld von meinem Vater geerbt. Klug investiert, würde es mich bis zum Grab durchbringen. Ich würde nie mehr meine Wohnung verlassen müssen. Jedenfalls nicht lebend.
    Fünf Jahre vergingen, und ich setzte keinen Fuß über meine Schwelle – einzige Ausnahme waren jährliche Besuche beim Arzt und beim Zahnarzt. Die Stiefmütterchen und Petunien in den Blumenkästen an meinen Fenstern kamen und gingen. Ich kochte, ich las, ich schnitt mir selbst die Haare. Versandhauskataloge, Lebensmittel per telefonische Bestellung, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen – alles, was ich brauchte, kam zu mir. Ich hatte kein Verlangen nach der Welt. Ich vermisste sie nicht. Ich war vollkommen zufrieden.
    Mutter war es natürlich nicht. Sie rief mich Tag und Nacht an. »Georgie Ann, das ist nicht natürlich. Du musst ausgehen. Du musst leben.«
    »Das tue ich, Mutter. Ich lebe mein Leben.«
    Sie probierte jede List aus, die Frauen kennen. Sie behauptete, sie läge im Sterben. Ich wartete ab, und sie starb nicht. Sie bot eine Luxusreise um die Welt an. Ich zauderte. Der Präsident der Vereinigten Staaten war in der Stadt und sollte zum Essen kommen. »Wirklich, Mutter«, sagte ich nur.
    Am nächsten Tag stand es im Nashville Banner. Der Präsident und die First Lady sowie der äußerst attraktive, selbstredend allein stehende Wahlkampfberater des Präsidenten hatten tatsächlich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater diniert, der hier in Tennessee ein großer Geldbeschaffer war.
    »Das tut mir wirklich Leid, dass ich das verpasst habe«, räumte ich ein. Und es stimmte auch. Für das erste Paar im Staate hätte ich mich hinausgeschleppt.
    Das hätte ich nicht zugeben sollen. Mutter sah eine Bresche in meiner Deckung und war nicht mehr zu bremsen.
    Genauer gesagt brannte sie meine Wohnung ab.
    Sie gab es natürlich nie zu, aber gleich am nächsten Abend nach dem Besuch des Präsidenten legte irgendjemand Feuer auf meiner Veranda, das die ganze Wohnung verschlang – mit voll gestopften Möbeln angefüllt, alten Spitzen, hauchdünnen Vorhängen –, in gerade mal zwanzig Minuten. Gott sei Dank sprang es nicht auf andere Wohneinheiten über. Ich hatte nur noch Zeit, ein paar Kleider zu packen, mein Silberbesteck und Wabash, meine Katze.
    Wohin sollte ich jetzt gehen? Zu Mutter, so schien es, da sie und Jack praktischerweise auftauchten und Stiefvater Nummer Fünf seinen großen, alten Mercedes zwischen den Feuerwehrwagen hindurchmanövrierte. Meine Nachbarn hätten angerufen, behauptete Mutter.
    »Blödsinn«, fauchte ich. »Du hast meine Wohnung abgefackelt.«
    »Ach, Georgie Ann, red keinen Unsinn«, entgegnete sie. »Komm und wohne bei uns in Belle Meade. Du kannst den ganzen Gästeflügel haben. Du wirst uns nicht einmal sehen.«
    Da ich keine andere Wahl hatte, nahm ich sie beim Wort. Ich würde mich in ihrer roten Backsteinvilla an der allerbesten Straße in der allerbesten Gegend von Nashville einquartierten, aber nur für ein Weilchen. Da sie begriff, dass sie sich beeilen musste, ließ Mutter bereits potenzielle Heiratskandidaten an meiner

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