Wenn Die Nacht Beginnt
erste Frage zu stellen. Hier ist die Antwort: Schlafen Sie in unserem Bett, essen Sie unsere Nahrung, streicheln Sie unsere Tiere, zahlen Sie Ihre Rechnung und lassen Sie meine Nichte und mich in Ruhe.«
Sie konnte ihn nur wie betäubt anstarren.
»Kapiert?«, fragte er.
Amelias Antwort bestand darin, mit so viel Würde, wie sie nur aufbringen konnte, zur Tür hinauszugehen. In Wirklichkeit zitterte sie. Der Mann war übergeschnappt, ganz klar. Er war ein Verrückter mit einer Farm voller wilder Tiere und einem jungen Mädchen, und alle waren abhängig von ihm. Und all diese Zeitungsausschnitte an der Wand? Für Amelia sahen sie wie Rache aus, wie eine ständige Erinnerung: Denk daran, vergiss es nicht. Was hatte dieser rachsüchtige, unberechenbare Mann eigentlich vor, jetzt, da der Mörder seiner Schwester ›nach Hause‹ kam? Und wie würde sich das alles auf das liebenswerte Mädchen auswirken?
Amelia war der Appetit vergangen.
Sie ging auf ihr Zimmer, verschloss die Tür und blieb dort, eine größtenteils schlaflose Nacht hindurch, bis zum Tagesanbruch.
Als sie sah, dass es Sandy war, die im Küchengebäude das Frühstück zubereitete, und nicht der irre Onkel, kam Amelia zu dem Schluss, dass sie dort essen konnte. Ein paar Minuten später war sie von ihrem Entschluss entzückt. Das Frühstücksbüfett bot Rühreier, Wurst, Biskuit, geschlagene Butter, Gelee und Honig aus der Umgebung, Zimtbrötchen, Müsli, Kaffee und Saft. Keiner der anderen Gäste war anwesend, also aß sie allein und sah den Kamelen und Zebras zu, wie sie sich an ihren Trögen zum Fressen anstellten.
»Himmlisch«, sagte sie dankbar zu Sandy, als sie ihr Geschirr zur Küche brachte. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen. Haben Sie gut geschlafen?«
»Sehr gut«, log Amelia. Das Mädchen schien so freundlich zu sein, dass Amelia nur annehmen konnte, dass der verrückte Onkel sie noch nicht gegen sie aufgehetzt hatte. »Sie machen all diese Arbeit und gehen obendrein zur Schule?«
»Ja, weil ich diese Arbeit liebe.«
Und weil Ihr Onkel Sie dazu zwingt, vermutete Amelia. Wie kann ich sie dazu bringen, mir die Wahrheit zu sagen über das, was hier vorgeht, und darüber, wie diese Jahre für sie gewesen sind? Sie bekam keine Gelegenheit dazu, weil das Mädchen sich die Schürze abnahm und sich eilig einen Rucksack griff.
»Bis später«, rief sie fröhlich.
Zu fröhlich, dachte Amelia, für ein Mädchen, dem die Woche bevorstand, in der ein Vater, den sie nicht kannte, aus dem Gefängnis kommen und in die Stadt zurückkehren würde – nur ein paar Meilen entfernt –, in der er sie praktisch zur Waise gemacht hatte.
Amelia tat das Herz weh vor Mitgefühl.
Plötzlich spürte sie die Motivation, die sie brauchte, um diese Geschichte zu verfolgen. Wenn sie die traurige Geschichte dieses jungen Mädchens veröffentlichte, konnte sie sie vielleicht von der monomanischen Herrschaft dieses bösartigen Onkels befreien.
Über Nacht hatte es einen Wetterumschwung gegeben, und es war Indianersommer.
Amelia legte ihre Jacke weg und zog eine kurzärmelige, weiße Seidenbluse und eine graue Sommerhose an, dazu graue Seidensocken und schwarze Mokassins. Sie wünschte sich, sie trüge Shorts, ein T-Shirt, Sandalen und eine Baseballmütze wie Sandy, als sie zur Schule davoneilte.
In ihrem Leihwagen fuhr Amelia mit laufender Klimaanlage nach Wichita zurück, wo sie den Rest des Vormittags in der Zentralbibliothek verbrachte. Sie fand heraus, dass Jahre der wirtschaftlichen Depression die Stadt Spale geleert hatten. Zwischen den Zeilen erahnte sie, dass der unbegreifliche Mord an ihrem intelligentesten Mädchen Spale zutiefst verwundet und der Stadt vielleicht den endgültigen Schlag versetzt hatte. Was für eine interessante Stadt es einmal war, dachte sie, mit seinem erstaunlichen System von Tunneln und unterirdischen Läden.
Während sie am Computer saß, erforschte sie auch den Status der importierten wilden Tierarten. Als sie keine negativen Informationen über Jim Kopeckis Farm fand, wusste sie nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Sie entschied sich für erleichtert, »aber nur um der Tiere willen«, sagte sie sich.
Einem Instinkt folgend, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn besaß, vermied sie es, ihre Konkurrenten in der örtlichen Zeitungsredaktion anzusprechen. Vielleicht würden sie ihr helfen, aber vielleicht wollten sie die Story auch für sich selbst behalten.
Sie rief jedoch das staatliche Gefängnis
Weitere Kostenlose Bücher