Wenn Die Nacht Beginnt
fragte sie das Mädchen: »Wo hat denn Ihr Onkel gelernt, wilde Tiere zu behandeln?« Ihr fiel keine einzige tiermedizinische Fakultät ein, die das anbot.
»Och, er lässt sich einfach immer wieder etwas einfallen«, antwortete sie leichthin. »Er nennt es die Schule der ›Mist!-Was-machen-wir-denn-jetzt‹-Tiermedizin.« Sie kicherte, und Amelia musste auch lachen. Es war ein mitfühlendes Lachen, denn sie wusste recht gut, auch wenn einige wilde Tierarten den Haustierarten ähneln, so ist doch das Innere eines Zebras nicht dem eines Pferdes vergleichbar, und ein Gnu ist keine Kuh, und so ausgefallene Tiere wie Giraffen oder Kängurus hatten besondere Bedürfnisse, die auch noch so viel Schulung an Katzen und Hunden einen jungen Tiermediziner nicht lehren konnte.
Sie kamen an das Kängurugehege, und Sandy erläuterte: »Eine Gruppe von Kängurus wird Mob genannt. Erwachsene Männchen nennt man Boomer.« Amelia grinste in sich hinein, weil sie an einem Tiermediziner-Witz denken musste: Wenn ein erwachsenes männliches Känguru ein Boomer ist, wird dann aus einem jungen Männchen ein Baby-Boomer?
Ein junges Känguru kam herübergehoppelt und griff mit seinen zierlichen Fingern in Amelias Hände, um ihr die Apfelscheiben zu entwenden, die sie dort versteckt hatte. Sie streichelte den weichen Rücken und spürte so etwas wie ein Glücksgefühl.
Als sie in ihr Zimmer zurückkam, stieg gerade ein heller Halbmond auf. Amelia hörte einen Esel im Stall wiehern, und ein Elch antwortete mit einem Trompetenstoß, der ganz nach einem Elefanten klang.
Sie schaltete alle Lampen an und war ein paar Minuten lang zufrieden. Sie wusste, zum Abendessen würde sie noch wegfahren müssen, in einer ländlichen Gegend ohne Straßenlaternen. Aber dafür waren ja Scheinwerfer da, sagte sie sich, um nach Einbruch der Dunkelheit einen beruhigenden Lichtpfad zu schlagen.
Da es in den Zimmern keine Telefone gab, machte sie sich auf die Suche nach einem Münzfernsprecher, den sie in dem unverschlossenen Büro fand. Sie war erleichtert, dass Jim Kopecki nicht da war und sie sein Büro noch einmal für sich hatte.
Als erstes stellte sie die Namen der Hinterbliebenen von Brenda Rogers fest. Sie las, dass Brenda ihre Eltern, Alfred und Betty Kopecki, zurückgelassen hatte, den zwölfjährigen Bruder James und eine kleine Tochter im Säuglingsalter, Sandra Gay. Diesmal war die Todesanzeige ein Schock. Amelia hatte zwar erwartet, dass Sandy mit dem Opfer verwandt war und ihr Onkel ein entfernter Verwandter, aber es war viel schlimmer: Sandy war die Tochter des Opfers und des Mörders. Dr. Jim Kopecki war der Bruder von Brenda.
Amelia wollte es ihm gerne als Verdienst anrechnen, dass er seiner Nichte ein Zuhause bot, aber was für eine Art von Zuhause konnte das schon sein, mit solch einem übel gelaunten Onkel?
Sie ging zu dem Münztelefon, um ihre nächste Pflicht zu erfüllen.
Ein Ferngespräch mit ihrem Chef zu führen machte sie nervös und gab ihr das Gefühl, naiv zu sein. Dreimal hustete sie und räusperte sich. Als er abnahm und »Hale« in den Hörer bellte, platzte Amelia mit der ganzen Geschichte heraus: von einem alten Mord und einem Mörder, der in eine Geisterstadt zurückkam – fast in einem einzigen Atemzug. Später dachte sie sich, es war ein Beweis für Dan Hales schnelle Auffassungsgabe, dass er sie nicht bitten musste, langsamer zu sprechen oder sich zu wiederholen.
»Machen Sie es«, sagte er.
Das war alles, und er hängte ein. Kein Rat, keine Vorbehalte, nichts, außer ›machen Sie es‹. Sie wünschte sich nur, dass sie es wollen würde! Er hatte so schnell eingehängt, dass er nicht einmal mehr hörte, wie sie sich verabschiedete.
Aber Dr. Jim Kopecki hörte sie, da er gerade in diesem Moment zur Haustür hereingekommen war. Er nickte ihr knapp zu, mit einem Ausdruck der Abneigung auf dem Gesicht, der ihn in Amelias Augen von einem gut aussehenden in einen hässlichen Mann verwandelte. Ohne ein einziges Wort ging er zu seinem Schreibtisch.
Entsetzt über sein Verhalten, verlor Amelia ihren Sinn für Höflichkeit. »Finden Sie es nicht grausam«, fragte sie ihn, »diese Zeitungsausschnitte hier auszustellen? Erinnern Sie Ihre Nichte nicht ständig an das, was ihr Vater ihrer Mutter angetan hat?«
Er schaute auf, und sein Gesicht sah unheimlich aus. Mit einer Stimme, so kalt wie die Winterwinde, die über die Farm ihrer Großeltern fegten, sagte er: »Ich habe mich gefragt, wann Sie dazu kommen würden, Ihre
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