Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
nahe Haltestelle anzufahren. Wenn sie jetzt lossprintete, konnte sie ihn bestimmt erwischen. Aber da war immer noch Seth. Er war ein Kater und viel schneller als sie…
Moment.
Ein Kater?
In Neles Kopf machte es vernehmlich »Klick!«. Natürlich, ein Kater! Es war so simpel! Seth war eine männliche Katze, in einem männlichen Menschenkörper obendrein– und darum trat Nele ihm mit dem Knie zwischen die Beine, so fest sie konnte. Zweimal, um sicher zu sein, auch wenn Seth bereits beim ersten Mal überrascht und schmerzhaft keuchte, sie losließ und ein Stück in sich zusammensackte. Dann stieß sie ihn mit aller Kraft gegen die Fahrradständer, sodass er stolperte, und rannte los.
Hinter sich hörte sie Seth mit heiserer Stimme ihren Namen rufen und wusste, dass er sie gleich verfolgen würde. Aber sie sah sich nicht um. Sie rannte einfach. Runter vom Schulgelände, die Straße entlang. An der Kreuzung zwei Straßen weiter hielt noch der Bus. Nele wusste nicht, wohin er fuhr, aber das war ihr auch egal. Sie stürzte darauf zu, wedelte wild mit den Armen und hoffte, der Fahrer würde sie sehen, auf sie warten, nur einen Moment noch…
Und er wartete. Setzte den Blinker und legte den Gang ein, aber er fuhr nicht los, bis Nele ihn erreicht hatte.
Keuchend stürzte sie ins Innere des Fahrzeuges. »Danke!«, japste sie und zerrte mit zitternden Fingern ihr Ticket aus der Hosentasche. Hinter ihr schloss sich mit einem Zischen die Tür. Der Fahrer nickte ihr zu und der Motor dröhnte auf. Der Bus setzte sich ruckelnd in Bewegung– und als Nele, noch immer mit hochrotem Kopf und völlig außer Atem, den Gang entlangstolperte, um sich einen Sitzplatz zu suchen, sah sie durch die Heckscheibe Seth mitten auf der Straße stehen. Mit vor Zorn glühendem Blick und geballten Fäusten verfolgte er, wie sie ihm entkam. Wie sie wegfuhr, an einen Ort, den sie ihm nicht verraten hatte.
Und spätestens jetzt, das war Nele völlig klar, wusste er ganz genau, dass sie von nun an gegen ihn arbeitete.
Elftes Kapitel
Es schmerzte. Es schmerzte wie die Hölle, zwischen den staksigen Menschenbeinen, wo seine Männlichkeit war, aber auch innen, in seinem Bauch, wo der Zorn sich zu einem glutheißen Klumpen geballt hatte.
Seth sah den Bus um die Ecke verschwinden, langsam nur, aber selbst für eine Katze in einem Menschenkörper zu schnell, um auch nur daran zu denken, ihn einholen zu können. Wo fuhr sie hin? Und warum zum Teufel floh sie plötzlich vor ihm?
Ein Auto raste hupend an ihm vorbei, und Seth wurde bewusst, dass er noch immer mitten auf der Fahrbahn stand. Anders als gewöhnlich war heute wenig Verkehr. Es war ja schon ein Wunder, dass der Bus hier entlanggekommen war – ein überaus ärgerliches Wunder noch dazu. Dennoch war es über kurz oder lang vermutlich nicht ratsam, auf der Straße stehen zu bleiben. Seth rettete sich auf den Gehsteig und verharrte erneut, noch zu benebelt vom Nachklang des Schmerzes und der Wut, um sich sofort zu entschließen, was er jetzt tun sollte.
Irgendwie musste er herausfinden, was Nele vorhatte. Warum misstraute sie ihm plötzlich so sehr? Ahnte sie etwa, dass er sie belogen hatte? Er musste wissen, was sie in der vergangenen Nacht im Schutz der Dunkelheit in Jaris Träumen gefunden hatte. Aber dafür brauchte er Ruhe und ein bisschen Zeit. Zeit, die ihm für die Suche nach ihr verloren gehen würde. Nein, er musste zuerst Nele selbst finden. Aber wie? Sie war nicht nach Hause gegangen, wie sie behauptet hatte. Ganz bestimmt nicht.
In diesem Moment fiel ihm die Adressenliste der Jahrgangsstufe ein, die er in Jaris Zimmer gesehen hatte. Ja, damit würde er weiterkommen. Bestimmt war Nele bei einem dieser Menschenmädchen untergekommen, mit denen sie ständig zusammensteckte. Und wenn es sein musste, würde er ein Haus nach dem anderen abklappern, um sie zu finden. Auf keinen Fall würde er noch ein einziges Mal zulassen, dass sie in die Traumkammer reiste und – mit welchem Plan auch immer – vielleicht doch noch einen Weg fand, Jari zurückzuholen. Aber was auch immer geschehen mochte, für Seth stand eines fest:
Er würde Nele nach allem, was er getan hatte, um sie für sich zu haben, nicht wieder hergeben. Unter keinen Umständen. Und auch Nele musste endlich begreifen, dass dieser dumme Menschenjunge ihr rein gar nichts bieten konnte und dass sie mit ihm viel besser dran war. Welches Mädchen konnte denn ernsthaft so jemanden zum Freund wollen, wenn es einen Kater haben konnte?
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