Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
lässig an dem mit Efeu überwucherten Unterstand lehnte. Und was noch viel schlimmer war– er hatte sie auch entdeckt.
Hastig warf Nele einen Blick in die Runde. Von ihren Freundinnen war nichts zu sehen. Hoffentlich hatten sie es schon geschafft, vom Gelände zu verschwinden. Aber wie sollte Nele ihnen jetzt folgen? Sie brauchte kein zweites Mal in Seths Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass er Verdacht geschöpft hatte. Vielleicht wusste er noch nicht, was genau in der letzten Nacht geschehen war. Aber er würde fragen. Und er würde sie ganz bestimmt nicht allein gehen lassen.
Schon kam er ihr entgegen. Fieberhaft dachte Nele nach, bis sie das Gefühl hatte, ihre Gedanken würden in ihrem Kopf aus der Bahn geraten und sich überschlagen wie ein Auto, das zu schnell durch eine Kurve raste. Was sollte sie sagen?
Auf Seths Lippen erschien ein Lächeln, aber es wirkte gezwungen.
»Nele.« Er blieb vor ihr stehen. Kaum zwei Armlängen trennten sie jetzt noch. »Ich habe dich gesucht.«
Nele spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Ich war auf dem Klo«, erklärte sie wahrheitsgemäß.
Seth hob eine Braue. Er wusste, dass sie ihm etwas verheimlichte. Er wusste es ganz genau. »Der Unterricht hat schon angefangen.«
Tatsächlich hatte es schon vor einer ganzen Weile geläutet. Nele hob die zittrigen Schultern und deutete mit einer vagen Handbewegung auf das Gewusel auf dem Schulhof. »Sieht nicht so aus, als würde der heute stattfinden, oder?«
Seth fixierte sie aus schmalen Augen. So hart hatte Nele seine Miene noch nie gesehen. »Wo wolltest du gerade hin?«, fragte er, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Nele ballte in den Hosentaschen die Fäuste, sodass ihre Fingernägel sich tief in die Handballen gruben. »Nach Hause«, sagte sie schnell. Es war das Erste, was ihr einfiel, und die einzige Lüge, die halbwegs plausibel klang. »Ich hatte mir hier ein bisschen Normalität erhofft, aber daheim fühle ich mich doch sicherer. Und wenn sowieso kein Unterricht ist…«
Seth stieß ein leises Lachen aus. Es klang ein wenig bitter. »Frau Klein ist aber da«, bemerkte er fast beiläufig. »Zieht ihr Ding durch wie immer. Wenn du Normalität suchst, bist du da sicher gut aufgehoben. Also, wollen wir hochgehen?«
Nele biss sich auf die Unterlippe. Ihr Piercing schmerzte schon bei der kleinsten Berührung, so oft hatte sie in den letzten Tagen daran herumgezerrt. »Ich will wirklich nach Hause. Mich macht das alles total fertig, ich brauche ein bisschen Ruhe. Echt.«
Seth legte den Kopf schief. Er lächelte noch immer, und es sah irgendwie gefährlich aus. Oder bildete Nele sich das doch nur ein, weil sie so nervös war?
»Was ist letzte Nacht passiert, Nele? Was hast du gesehen? Ich mache mir Sorgen um dich, wenn du mir nichts erzählst. Ich dachte, wir wollten über einen Plan nachdenken?«
Nele biss die Zähne zusammen, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kiefer würde gleich brechen. Sie war so eine elend schlechte Lügnerin! Und selbst wenn sie cooler damit hätte umgehen können, fiel ihr doch nichts ein, was sie hätte lügen können.
»Es war dunkel!«, brachte sie endlich hervor. Das war ihre einzige Chance. Wenn sie die Wahrheit sagte und den wichtigen Teil verschwieg, glaubte Seth ihr vielleicht. Auch wenn ihr das immer noch nicht helfen würde, ihn loszuwerden. Vermutlich eher im Gegenteil. »Ich hatte Angst, ich dachte, ich finde den Weg zurück nicht mehr! Und… und deine Lichter habe ich auch nicht gesehen!«
Ihre Stimme bebte jetzt so sehr, dass sie beinahe kippte. Und vermutlich war das gut, weil es ihre Worte glaubwürdiger machte. Zumindest wurden Seths Züge nun wieder etwas weicher.
»Armes Sternenkind«, sagte er leise und trat näher an sie heran. Behutsam schloss er sie in die Arme. Sein Körper, der Nele inzwischen so vertraut war, schmiegte sich an sie. Seine Wärme hüllte sie ein. Und für einen winzigen Augenblick war Nele versucht, sich einfach an ihn zu lehnen und hilflos zu heulen. War er denn wirklich der Fiesling? Konnte er nicht einfach helfen wollen, wie er es versichert hatte?
Aber Toras Warnung klang Nele noch zu deutlich in den Ohren, als dass sie daran noch mit Überzeugung hätte glauben können. Sie musste ihren Weg jetzt ohne Seth weitergehen. Und dafür musste sie ihn loswerden.
Auf der Straße vor der Schule, nur wenige Meter von ihnen entfernt, fuhr ein Bus vorbei. Nele hörte das stotternde Geräusch des Motors, als das Fahrzeug langsamer wurde, um die
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