Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
absolut nicht ein, dass es nicht möglich sein sollte, Nele auf die andere Seite des Nachtglases zu bringen. Schließlich geschah es doch immer wieder, dass einzelne Traumfetzen durchs Nachtglas trieben und sich in der Unendlichkeit der zweiten Ebene verloren. Warum also hatte es bei Nele nicht funktioniert? Sie war doch sogar einverstanden gewesen!
»Klarträumer sind anders«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm.
Seth fuhr herum. »Fae!«
Kristallklare, farblose Augen musterten ihn kühl, ohne eine Spur von Freundlichkeit. Die kupferfarbene Haut der Frau, die von einer Sekunde auf die andere nur wenige Schritte von ihm entfernt stand, schimmerte selbst in der Dunkelheit, als leuchtete sie in ihrem eigenen Licht. Die Schwärze der Nacht schmiegte sich an sie wie eine weiche Decke, legte sich wie ein Schleier über ihr weißes Haar und konnte sie doch nicht berühren. Sie war so plötzlich aufgetaucht, als sei sie einfach aus dem Nichts erschienen – und in gewisser Weise war sie das wohl auch: Fae, die verehrte Göttin und Herrscherin aller Wächter der Region um Erlfeld, hatte ihre Glashalle verlassen, um Seth einen Besuch abzustatten.
Seth atmete tief durch und versuchte, seinen aus dem Rhythmus geratenen Atem zu beruhigen. Er fühlte sich ertappt. Wie auch nicht, wo sie ihn doch ausgerechnet dabei erwischt hatte, wie er Neles Traumkammer bespitzelte?
Langsam stand er auf und ging auf Fae zu, bis er dicht vor ihr stand. Sie regte sich nicht, als er seine Wange in einer respektvollen Begrüßungsgeste leicht an ihrer rieb. Ein schlechtes Zeichen. Fae konnte sehr anschmiegsam sein, wenn sie in der richtigen Stimmung war, das hatte Seth schon öfter zu seinen Gunsten ausgenutzt. Gerade jetzt war das allerdings wohl nicht der Fall. Bewusst ruhig trat er zwei Schritte wieder zurück und neigte demütig den Kopf. »Was für eine Ehre, dich zu sehen.«
Fae verzog keine Miene. Aber sie ließ Seth auch nicht eine Sekunde lang aus den Augen. »Tu nicht so. Wir wissen beide, dass du niemals auf den Gedanken kämest, dich von allein mit einer wichtigen Neuigkeit bei mir zu melden.«
Kurz überlegte Seth, ob es klug wäre, sich dumm zu stellen. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Fae erfuhr alles, was in ihrem Reich vor sich ging. Natürlich hatte sie bemerkt, was er in der letzten Nacht getan hatte. Und sie schien ganz und gar nicht glücklich darüber zu sein.
»Mir war nicht klar, dass es so wichtig ist«, erklärte er behutsam.
Nun hob sich eine von Faes schmalen Brauen. »Ach, ist das so? Dass eine Klarträumerin in deinem Revier aufgetaucht ist, hältst du nicht für wichtig?« Ihr Kopfschütteln war kaum sichtbar, so klein war die Bewegung. »Bist du wirklich so dumm, Seth?«
Seth verzog unwillig den Mund. Göttin oder nicht, er hatte schon immer empfindlich auf Beleidigungen reagiert. »Das hat nichts mit Dummheit zu tun. Ich denke, du vergisst, dass ich noch längst nicht dein ehrwürdiges Alter erreicht habe. Ich kann nicht alles wissen, und einem Klarträumer bin ich nie zuvor begegnet.«
Fae musterte ihn noch immer mit diesem starren Blick. Im Gegensatz zu anderen Frauen, die Seth kannte, ließ sie sich keineswegs von Spitzen gegen ihr Alter beeindrucken. Sie war eine Göttin. Ihre Zeit lief niemals ab, und ihr Körper blieb immer jung und stark. Wenn sie wütend wurde, dann aus einem sehr viel gewichtigeren Grund.
»Nun denn, wie du meinst. Dann lass dir erklären, unerfahrenes Katzenkind«, entgegnete sie kühl, ohne die Spur eines Lächelns. »Du denkst vielleicht, deine Aufgabe bestünde allein darin, aufzupassen, dass kein Träumer sich so sehr in der Betrachtung eines Traums verliert, dass er nicht wieder aufwacht. Du weißt nicht, dass im Umgang mit Klarträumern besondere Vorsicht geboten ist, weil du bei deiner Einführung nicht richtig zugehört hast, so wie du niemals richtig zuhörst. Dabei sind sie es, auf die wir besonders achten müssen. Denn sie können nicht nur die Träume nach ihrem Willen verändern – sie sind auch die einzigen Menschen, die das Nachtglas berühren können. Das macht sie zu einer Gefahr nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen Träumer in ihrer Nähe. Gestern ist dieses Mädchen, das neuerdings in deinem Revier herumstreunt, bereits gegen das Nachtglas getaumelt – selbst du solltest die Erschütterung gespürt haben. Und spätestens dann hätte dir wohl klar sein müssen, dass du mir einen so bedeutsamen Vorfall melden
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