Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
berührten, hielt sie inne. Zog die Hand ein Stück zurück, und der Zweifel überschattete erneut ihren Blick.
»Versprichst du, dass du mich wieder zurückbringst?«
Jähe Enttäuschung kroch Seths Kehle hinauf. Zurückbringen? Nein, das hatte ganz bestimmt nicht auf seinem Plan gestanden.
»In die Menschenwelt?« Er legte den Kopf schief. »Was willst du denn da?«
Für einen Moment presste sie die Lippen zusammen. Dann verschränkte sie die Hände auf dem Rücken. Der Wind trieb flatternde Haarsträhnen in ihr Gesicht, aber sie strich sie nicht weg.
»Ich lebe dort«, sagte sie fest. Aber Seth konnte ihr Herz laut und hastig pochen hören. »Ich gehöre dorthin, nicht hierher. Und erst recht nicht an einen Ort, wo es nur noch Träume gibt.«
Ihre Stimme klang so sicher, als habe sie sich die Worte schon lange zuvor überlegt; ja als habe sie sie sich selbst schon unzählige Male vorgetragen. Es war ein unumstößlicher Beschluss. Auch wenn ein winziger, sehnsüchtiger Teil von ihr das vielleicht bedauerte.
Für einen Moment noch verharrte Seth reglos. Wartete, ob sie noch etwas sagen würde. Aber er wusste, es war vorüber. Die Zurückweisung bohrte sich wie ein raukantiger Stachel tief in seinen Stolz. Sie würde nicht mit ihm kommen. Sie wollte seine Geschenke nicht. Wortlos wandte er sich ab.
»Seth!«
Er hörte ihre Stimme im Wind, spürte wie das Begreifen dessen, was sie angerichtet hatte, sie erschauern ließ. Aber er drehte sich nicht noch einmal um. Sie hatte soeben ihren eigenen Zauber zerstört. Zögerliche Weibchen langweilten ihn. Er blickte nicht noch einmal zurück.
Mit einem kräftigen Satz sprang er hinaus aus ihrem Traum und wurde zu einem Schatten in ihrem Himmel.
Als Nele an diesem Morgen aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Dumpfe, fiese Kopfschmerzen, begleitet von einem nagenden Schuldgefühl in der Magengrube. Dabei gab es ja wirklich nichts, wofür sie sich schuldig fühlen musste, dachte sie ärgerlich. Unwillig zog sie das Kissen über den Kopf und die Knie eng an die Brust. Es war doch nur ein Traum!
Oder?
Seths Gestalt tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wie er sich abwandte und verschwand. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie hastig und ein wenig ungeduldig wegwischte. Warum nur machte es ihr so zu schaffen, ihn weggeschickt zu haben? Sie konnte ihn doch jederzeit wieder rufen. Den Traum weiterträumen– und Seth beim nächsten Mal vielleicht überzeugen, mit ihr zu gehen, statt umgekehrt.
Oder?
Und, viel wichtiger noch: Wollte sie das überhaupt?
In Neles Handfläche kribbelte noch immer die flüchtige Berührung von Seths Fingern, die über ihre Haut geglitten waren. Die zugreifen wollten, gerade in dem Moment, als sie einen Rückzieher machte. Bei der Erinnerung zog ein Prickeln durch Neles Bauch, und ihre Wangen begannen zu glühen. Er hatte sich so echt angefühlt. So fremd. In ihren Träumen gab es sonst nichts, was sie noch nie berührt hatte. Nichts, von dem sie nicht genau wusste, was sie erwartete, wenn sie danach griff. Außer ihn.
Entschlossen warf Nele das Kissen und die Bettdecke von sich und setzte sich auf. Es wurde Zeit, aufzustehen und diese Gedanken loszuwerden. Ihre Reaktion war richtig gewesen, das wusste sie genau. Sie hatte sich schon einmal in einem Traum verloren. Das wollte sie niemals wieder erleben müssen.
Als Nele gute zwei Stunden später in der Schule ankam, war der Himmel immer noch grau, und sie hatte immer noch Kopfschmerzen. Darüber hinaus fühlte sie sich wie zerschlagen, als hätte sie mehrere Nächte hintereinander kaum geschlafen. Und die Aussicht darauf, gleich zu Beginn des Schultages eine Doppelstunde Sport überstehen zu müssen, besserte ihre Laune auch nicht gerade.
Der einzige Lichtblick, den Nele in dem ganzen Schlamassel erkennen konnte, war die Tatsache, dass auch Aylin im gleichen Sportkurs sein würde wie sie. Und Jari.
Zugegeben: Dass Jari dabei war, ja dass er tatsächlich wie verabredet unter der Linde vor dem Hauptgebäude auf sie wartete, trug sehr viel mehr dazu bei, dass der Morgen ein wenig heller wurde, als die Aussicht auf Aylins müdes Gesicht. Die Freude, ihn zu sehen, ließ von einer Sekunde zur nächsten einen kleinen, warmen Funken in Neles Brust aufleuchten, der die Nacht– und mit ihr die Gedanken an Seth– ein gutes Stück in den Hintergrund rücken ließ. Und auch auf seinem Gesicht erschien ein kleines Lächeln, als er sie entdeckte. Obwohl er, von Nahem betrachtet, noch eine ganze
Weitere Kostenlose Bücher