Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
kannte sie ihn schließlich doch noch nicht.
Sie schwiegen nun wieder, aber es war jetzt immerhin ein einvernehmliches Schweigen, als hätten sie beide zugestimmt, sich gegenseitig noch etwas Zeit zum Aufwachen zu geben.
»Bis gleich«, sagte Jari nur noch, als sie sich vor den Umkleidekabinen trennten. Die Mädchenumkleide lag ganz am Ende des Eingangsbereiches, die Jungenumkleide vorn. Und während Jari die Tür hinter sich schloss, schlurfte Nele allein noch ein Stück weiter, bis in den kahlen, nur mäßig beheizten Raum, in dem sich schon etliche ihrer Mitschülerinnen versammelt hatten.
Auch Aylin war da. Wie erwartet hockte sie mit langem Gesicht auf der Bank und quälte sich mit ganz offensichtlichem Widerwillen in ihre Sporthose.
»Basketball«, murrte sie zur Begrüßung. »Ich hasse Basketball.«
Nele seufzte und schälte sich aus ihrer Jacke. »Morgen, Aylin.« Aber Aylin würdigte sie keiner weiteren Antwort. Scheinbar, dachte Nele, war heute wirklich jeder mies gelaunt. Dabei klang Basketball gar nicht so furchtbar schlecht. Das war immerhin hundertmal besser als Geräteturnen oder ähnliche Disziplinen, bei denen sie sich einfach zwangsläufig dumm anstellen musste. Eine Blamage, und dann auch noch vor Jari, wäre an diesem Morgen das Letzte gewesen, was sie hätte gebrauchen können. Nur war das vermutlich nicht im Entferntesten das, was Aylin von ihr hören wollte, also behielt sie diese Gedanken lieber für sich.
Sie brachte das Umziehen so schnell wie möglich hinter sich und hüpfte ein paarmal auf der Stelle, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Inzwischen verstand Nele, warum sich offenbar jeder einzelne ihrer Mitschüler– abgesehen von ihr selbst– eine Trainingsjacke mitgebracht hatte. Sie musste sich dringend auch eine besorgen, und zwar so schnell wie möglich. Für den Moment war es nur gut, dass gleich der Unterricht anfing und sie aus dieser unterkühlten Umkleide herauskam.
Aber wenn Nele gehofft hatte, dass es im Inneren der Halle wärmer sein würde, dann hatte sie sich gründlich getäuscht. Resigniert schob sie die Hände unter die Achseln. Sich richtig in diese Sportstunde reinzuhängen, würde wohl das Einzige sein, was wirklich gegen das Frieren half.
Motivierter war sie deshalb aber noch lange nicht.
Zu Neles Glück– oder Pech, wie auch immer man es sehen wollte– war Herr Beek, der Sportlehrer, ein Drill-Sergeant der alten Schule, der ihr nicht viel Zeit ließ, in düsteren Grübeleien über ihre Unlust zu versinken. Und erst recht nicht, vor dem Unterricht noch mit Jari oder Aylin zu quatschen oder sich lange über die Temperaturen zu beschweren. Er stieg direkt mit einem knallharten Aufwärmtraining ein, das Nele in kürzester Zeit das Gefühl gab, beim nächsten Schritt umzufallen. Sie war unsagbar froh, als sie endlich zu den Basketballübungen übergingen. Dribbeln, Sprungwurf und Freiwurf hatte sie zu Hause in München schon geübt, und neben Aylin, die sichtbar lustlos schlaffe Bälle in Richtung Korb warf, machte sie sogar eine richtig gute Figur. Herr Beek ging währenddessen herum, beäugte seine Schutzbefohlenen kritisch und verteilte kommentarlos neongrüne Überzieh-Trikots an die Hälfte des Kurses.
Und dann schließlich begannen sie zu spielen– in gemischten Teams, immer fünf gegen fünf, mit je sechs Spielern auf der Ersatzbank, von denen alle zwei Minuten einer eingewechselt wurde. Herr Beek stand am Rand, war Schiedsrichter und Coach für beide Teams zugleich und gab am laufenden Band bellende Kommandos.
Im Nachhinein hätte Nele nicht genau sagen können, wie es dazu kam, dass sie im entscheidenden Augenblick so unaufmerksam war. Hätte sie jemand gefragt, sie hätte darauf getippt, dass sie einen Moment zu lang sehnsüchtig zur Ersatzbank gestarrt hatte, auf der sie noch kein einziges Mal hatte sitzen dürfen. Oder vielleicht auch zu Jari, der gerade davor stand, die Hände auf den Knien abgestützt und die Brust unter dem abgewetzten T-Shirt heftig pumpend. Nele bildete sich ein, dass er das Gesicht verzog, als hätte er starke Schmerzen…
Und dann hörte sie Aylin, die mit entsetztem Kieksen in der Stimme ihren Namen rief, und drehte sich unwillkürlich zu ihr um– nur um ihr Gesicht mitten in den heranrasenden Ball zu halten. Sie stolperte zwei Schritte rückwärts und setzte sich kurz darauf unsanft auf den Hosenboden. Tränen schossen ihr in die Augen, ohne dass sie sie hätte aufhalten können. In ihren Ohren rauschte
Weitere Kostenlose Bücher