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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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sich selbst. Zumindest war das doch der Schluss, zu dem er letztendlich gekommen war. Und wenn man es so betrachtete, ergab es durchaus einen Sinn, wenn auch auf eine verquere Weise.
    Wie auch immer, dachte Jari, zunächst einmal sollte er besser froh über die Möglichkeiten sein, die sich ihm dadurch eröffneten. Entschlossen setzte er seinen Fuß auf die unterste Sprosse und begann den Aufstieg.
    Je höher er kletterte, desto heller wurde seine Umgebung. Er konnte nun auch die Innenwände des Baumstamms erkennen, die sich immer enger um ihn zusammenzogen, bis er kaum noch weiterklettern konnte, ohne sich die Schultern an den Astlöchern zu stoßen, die sich immer wieder aus dem Holz vorwölbten wie dicke Beulen. Dafür konnte er über sich bald dicke, weit verästelte Zweige sehen, und darüber den dunkelgrauen Himmel. Und schließlich zwängte er sich aus dem engen Loch am Ende der Leiter und fand sich auf einem Ast wieder, der so dick war, dass Jari ihn mit den Armen nicht hätte umfassen können.
    Vorsichtig richtete sich Jari auf dem unebenen Untergrund auf und hielt sich an einem zweiten Ast fest. Der Wind trieb ihm die Haare in die Augen und nahm ihm die Sicht. Doch als er endlich festen Halt gefunden hatte und sich die wirren Strähnen zurückstrich, um seinen Blick über die Umgebung schweifen zu lassen, stockte ihm der Atem.
    Um den Baum herum erstreckte sich in alle Richtungen eine unendlich große und ebenso bizarre Landschaft. Noch nie hatte Jari so weit in die Ferne sehen können, und er erkannte, dass die Grasebene, die ihm wenige Stunden zuvor noch endlos erschienen war, nur ein kleines Puzzleteil in einem Teppich aus den verschiedensten Szenarien darstellte. Wüsten, riesige Städte, dampfende Regenwälder und stürmische Meere, schneebedeckte Gebirge und verzweigte Höhlensysteme– alles ohne Sinn oder erkennbares System versammelt unter dem finsteren Himmel, der sich ständig wandelte. Und nicht nur der Himmel, auch die Landschaft selbst blieb niemals gleich. Die silbrigen Fäden, die Jari nun schon mehrmals gesehen hatte, tropften fortwährend aus dem dunklen Grau herab auf den Boden, der sich unter der Berührung in dunstigen Schwaden zu neuen Szenarien formte und die alten Landschaften beiseitedrängte.
    Eine ganze Weile stand Jari nur mit offenem Mund da und staunte. Er musste sich getäuscht haben. Dies konnte unmöglich seine eigene Innenwelt sein! Dafür erschien ihm all das viel zu fremd, viel zu groß. Und auch den Treffpunkt mit Nele würde er von hier aus wohl kaum finden, so viel musste er sich jetzt eingestehen.
    Nele…
    Noch einmal spürte Jari dem Gefühl nach, das unter all den neuen Eindrücken mehr und mehr verschüttet wurde. Das Gefühl, dass Nele aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz ganz in der Nähe gewesen war, dort unten am Fuß des Baumes. Hatte sie etwas gesagt, hatte sie versucht, mit ihm zu sprechen? Suchte sie tatsächlich schon nach ihm? So unwahrscheinlich der Gedanke auch war, er ließ einen Funken Hoffnung in Jaris Brust aufleuchten. Nachdenklich sah er auf das verrückte Stückwerk der Landschaften unter ihm. Dort hinauszugehen und ziellos umherzuwandern, würde ihn vermutlich nicht viel weiterbringen. Und hieß es nicht, wenn man sich verirrt hatte, sollte man stehen bleiben und warten, damit man leichter gefunden werden konnte? Einmal ganz abgesehen davon, dass diese Kinder vom Spielplatz vielleicht nicht die einzigen aggressiven Wesen waren, die sich dort draußen herumtrieben.
    Genau. Er würde hierbleiben, entschied Jari und machte sich wieder an den Abstieg die Leiter hinunter. Zumindest vorerst. Er konnte doch gut noch eine Weile den Baum als Zuflucht nutzen. Wenn Nele zurückkehrte, würde sie sicher auch zuerst hier nach ihm suchen.
    Am Fuß des Baumes angekommen, blieb Jari einen Moment neben der Leiter stehen und strich gedankenverloren über das Holz. Während er wartete, könnte er sich ja die Zeit damit vertreiben, herauszufinden, wie viel von seiner Umgebung er wirklich verändern konnte– und sich gleichzeitig seine neue Bleibe etwas gemütlicher gestalten. Dieser singende Ton, der jedes Mal erklang, war zwar nicht gerade angenehm. Aber daran würde er sich schon gewöhnen.
    Ja, so würde er es machen. Er würde mit ein paar Fenstern anfangen, damit zumindest etwas Licht hereinfiel. Ein Sofa wäre auch nicht schlecht, und ganz sicher würde ihm noch einiges mehr einfallen. Und wenn Nele dann zurückkehrte, würde er sie gebührend

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