Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
empfangen.
***
Als Nele am nächsten Morgen aufwachte, war Seth nicht mehr da. Dafür stand die Balkontür einen Spalt breit offen, wie eine Nachricht, wohin er verschwunden war. Oder zumindest in welche Richtung. Sicher war es klug von ihm gewesen, sich schon vor Sonnenaufgang aus dem Staub zu machen. So war die Chance, dass jemand sah, wie er von Neles Balkon kletterte, doch viel geringer. Und auch Mommi, die schon unten in der Küche mit Geschirr klapperte und sicher bald an die Tür klopfen würde, um Nele zum Frühstück zu wecken, wäre sicher nicht begeistert gewesen, bei dieser Gelegenheit einen fremden Jungen im Bett ihrer Tochter vorzufinden. Trotzdem war Nele ein wenig enttäuscht, dass Seth einfach ohne ein Wort abgehauen war. Schließlich hatte er versprochen, dass sie heute über ihre Reise in Jaris Traum reden– und vor allem beraten würden, was sie jetzt tun sollten. Aber vielleicht war ein gemütliches Frühstück mit Mommi zur Abwechslung auch keine schlechte Idee. Seth würde schon wieder auftauchen. Nele hoffte nur, dass sie so nicht zu viel wertvolle Zeit verloren.
Sie frühstückte mit ihrer Mutter, wobei sie sich sehr bemühte, möglichst fröhlich und normal zu sein, oder zumindest so zu wirken. Sie erzählte von der AG , und vom bevorstehenden Treffen mit Svea, bei dem Nele die Gelegenheit nutzen würde, Erlfeld noch ein bisschen ausgiebiger zu erkunden. Von den Träumen oder Jari sprach sie nicht. Mommi wäre nur neugierig geworden oder hätte am Ende noch darauf bestanden, ihn kennenzulernen. Wenn Jari erst wieder da war, war das natürlich kein Problem. Aber solange Seth in seinem Körper steckte… Obwohl Nele wirklich glaubte, dass er ihr und Jari helfen wollte, traute sie ihm einfach nicht zu, sich in Gegenwart ihrer Mutter anständig und unauffällig zu verhalten. Dafür hatte er sowohl in ihren Träumen als auch in der Realität schon zu viele merkwürdige Dinge angestellt.
Um zwölf Uhr machte sie sich schließlich auf den Weg, um wie verabredet um halb eins am Bahnhof zu sein. Obwohl Nele sehr pünktlich war, wartete Svea schon auf sie. Sie saß auf einer Bank gegenüber dem Haupteingang, in Jeans und knielangem Mantel elegant wie immer. Über ihrer Schulter trug sie eine kleine Tasche. Als sie Nele entdeckte, stand sie auf und kam ihr lächelnd entgegen.
»Hallo, liebe Nele!«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Na, bist du frisch und ausgeruht für dieses verrückte Abenteuer?«
Nele grinste, auch wenn es ein bisschen schief geriet. »Na sicher. Zu allen Schandtaten bereit.«
»Ja dann.« Svea klopfte leicht auf ihre Tasche, die Nele jetzt als eine Fototasche erkannte. »Ich schlage vor, wir machen ein paar Probeaufnahmen. Wenn schon, denn schon, nicht wahr? Also, wo willst du zuerst hingehen?«
Nele überlegte kurz. Sie hatten am Tag zuvor bei der AG schon einige Orte ausgesucht, die sich vermutlich als Kulisse für Aufnahmen unter dem Titel Sonnentänze über Erlfeld eignen würden. Drei davon hatte Frau Kraft Svea und Nele zugeteilt: Den Hof der stillgelegten Leinenweberei, den Steinbruch im Stadtwald und die Ruine der alten Kapelle, die noch ein bisschen tiefer in diesem Wald gelegen war. Jetzt lag es an ihnen, die beste Szenerie auszusuchen.
»Fangen wir mit der Leinenweberei an«, entschied sie schließlich.
Svea nickte. »Gute Idee. Da können wir zu Fuß hingehen, dann siehst du auch noch etwas von der Innenstadt. Also, los geht’s.«
Erlfeld war eine kaum mehr als mittelgroße Stadt, die, so erzählte Svea, während sie Nele durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen der Altstadt führte, ursprünglich als Fischer- und Bauernsiedlung am Ufer des Flusses Stever entstanden war. Zur Stadt war das Dörfchen erst viel später geworden, als ein gewisser Josef Habermann zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ebenjene Leinenweberei gebaut und Erlfeld so zu Wohlstand und stetig wachsenden Einwohnerzahlen verholfen hatte. Heute wurde in Erlfeld kein Leinen mehr hergestellt. Aber die alte Weberei, die gab es noch. Seit Jahrzehnten, so sagte Svea, war geplant, sie in ein Museum umzubauen, um vielleicht ein paar Touristen anzulocken. Aber die Stadt hatte nie genug Geld, und so standen die Gebäude Jahr um Jahr leer und wurden gerade so weit in Stand gehalten, dass sie nicht einfach in sich zusammenbrachen.
In der Mitte des großen Hofes, zwischen den Stangen, an denen früher die Stoffbahnen zum Trocknen und Bleichen aufgespannt worden waren,
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