Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
Vom Netzwerk:
aussah, konnte er sogar Türen öffnen, die in neue Räume führten. Genauso, wie er es schon oft getan hatte, wenn er in der Leere in sich selbst Zuflucht suchte. Nein, so gesehen fragte er sich sogar, wie er sich jemals darüber hatte wundern können. Dies war seine Welt. Sein Reich, über das er bestimmte.
    Noch einmal atmete er tief durch. Dann trat er über die Schwelle. Augenblicklich wurde der Flur etwas heller, obwohl immer noch nichts zu erkennen war. Aber Jari wusste, warum. Er musste diesen Raum erst formen.
    Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie es sein sollte. Nicht wie zu Hause, nein, überhaupt nicht. Statt klebrigem Kunststoffbelag sollte warm schimmerndes Parkett auf dem Boden liegen. Die Wände sollten in hellen, freundlichen Farben gestrichen sein, und der Lack der Türrahmen nicht vergilbt vom Holz blättern. Die Tür zur Küche sollte offen stehen und einladendes Licht in den Flur lassen…
    Die Welt erzitterte unter dem Klingen, das Jari nun schon vertraut war, und er öffnete die Augen.
    Ja. Da war es. Alles.
    Und noch viel mehr. Er konnte noch viel mehr erschaffen.
    Die Erkenntnis nahm ihm für einen Moment den Atem und fühlte sich zugleich vertraut an. Vertraut und unbeschreiblich gut. Er konnte erschaffen, und anders als in seinen früheren Ausflügen in sein Inneres fühlte es sich nicht nur echt an. Es würde echt sein, solange er hier war.
    Ein Kribbeln regte sich in Jaris Magen und wuchs seine Wirbelsäule und seinen Hals hinauf, bis er glaubte, vor Erregung platzen zu müssen. Es gab keine Grenzen mehr, keine Regeln, an die er sich halten musste. Es gab hier keinen Vater, der ihn unterdrückte, und keine Mutter, die ihn mit ihrer Liebe erstickte. Er war frei, und er konnte alles haben! Alles!
    Mit raschen Schritten lief er hinüber in die Küche. Hier wollte er weitermachen. Und wie viel er wollte!
    Schon bald war er völlig versunken darin, sich sein neues Zuhause einzurichten. Ein Zuhause, das seinem eigenen in der realen Welt denkbar ähnlich sah– nur, dass es hell, sauber und geräumig war, und unendlich viel schöner. Die Küche war modern, der Kühlschrank und die Regale zum Bersten gefüllt mit Leckereien, die Jaris Familie in der Realität sich niemals hätte leisten können. Das Bad war so riesig, dass es Platz hatte für einen freistehenden Whirlpool, eine Dusche und eine kleine Sauna. Überall waren große Fenster, durch die Sonnenlicht hereinflutete. Und Jaris eigenes Zimmer, vor allem das… Nichts wollte er hier halten wie in seiner stickigen Kammer daheim. Stattdessen gab es hier das größte Fenster der ganzen Wohnung, ein breites, unendlich bequemes Bett und einen Computer– natürlich auf dem neuesten Stand der Technik– auf einem Schreibtisch, der diese Bezeichnung auch verdiente. Es war, wie Jaris echtes Leben niemals würde sein können und wie er es sich doch immer erträumt hatte. Stunden, so schien es ihm, wanderte er von Zimmer zu Zimmer, veränderte hier noch ein Detail oder blieb einfach mitten in einem der Räume stehen, versunken in den Anblick und das warme Gefühl, das sich dabei in ihm ausbreitete. So schön. So einladend und gemütlich. Genau so musste sich ein wirkliches Zuhause anfühlen.
    Nur das Schlafzimmer seiner Eltern betrat er nicht.
    Sie war da, diese Tür auf dem Flur schräg gegenüber der Küche. Er hatte sie eingebaut, weil sie dort einfach hingehörte. Schließlich war diese Tür schon sein ganzes Leben lang dort gewesen. Aber sie blieb verschlossen. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er davorstand, und doch ging er jedes Mal weiter, fand etwas anderes zu tun, zu gestalten, zu erschaffen.
    Irgendwann legte er sogar die Hand auf die Klinke, nur um Haaresbreite davon entfernt, sie doch herunterzudrücken, hineinzugehen und das Zimmer einzurichten wie die anderen.
    Aber auch diesmal tat er es nicht. Und als ihm in diesem Augenblick plötzlich klar wurde, warum er so lange zögerte, fuhr ein Frösteln prickelnd über seinen Nacken.
    Mit einem Ruck wandte Jari sich ab, rannte beinahe zurück in sein eigenes Zimmer, wo er das Fenster aufriss und mit schwerem Atem auf die Ebene starrte. Weit über ihm vibrierte noch immer der anthrazitfarbene Himmel unter dem seltsamen Klingen, das seit Stunden kaum verstummt war, und am Horizont tropften nach wie vor lange Fäden aus Silberlicht zu Boden. Jari wollte nicht darüber nachdenken, was ihm gerade bewusst geworden war, und auch nicht darüber, was es bedeuten mochte. Und trotzdem

Weitere Kostenlose Bücher