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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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konnte er nicht aufhören, es immer wieder zu versuchen– und daran zu scheitern. Es war nicht zu leugnen und auch nicht rückgängig zu machen.
    Er konnte sich nicht mehr an die Gesichter seiner Eltern erinnern.

Neuntes Kapitel
    Als das Nachtglas riss, war die Erschütterung bis in die äußersten Winkel der Traumkammern zu spüren. Es war ein Beben, das die gesamte Traumwelt erzittern ließ, die daraufhin ein Stück tiefer sackte, wie eine Fahrstuhlkabine, deren Trageseil Faser um Faser riss. Und nur kurz darauf begannen die Träume in Richtung des Risses zu fließen; langsam nur, aber unaufhaltsam, wie dickflüssiger Schlamm, der in einen halb verstopften Abfluss gesogen wurde.
    Tora hatte die vergangenen Stunden damit verbracht, rastlos umherzustreifen. Ihre erste Absicht war gewesen, sofort mit Fae zu sprechen, um zu melden, was Seth trieb. Doch die Göttin war nicht in der Glashalle, was ungewöhnlich genug war. Ob sie sich selbst an der Suche nach dem verschwundenen Jungen beteiligte? Möglich – aber vielleicht war sie auch ganz woanders. Und Tora konnte zwar ansonsten jeden ihrer Artgenossen mit Leichtigkeit aufspüren, doch bei einer Göttin war das ein weitaus schwierigeres Unterfangen. Um nicht zu sagen, unmöglich.
    Auch in der Unendlichkeit war sie gewesen und hatte nach dem verlorenen Träumer Ausschau gehalten, wie sie es sich vorgenommen hatte. Aber die zweite Ebene der Traumwelt war nun einmal genau das, was ihr Name versprach: unendlich. Ohne einen Anhaltspunkt war es selbst für eine herausragende Jägerin wie Tora reine Glückssache, ob sie eine Spur fand oder nicht.
    Doch als der Riss im Nachtglas auch durch sie hindurchlief und sie von den Ohren bis zur Schwanzspitze erzittern ließ, gab es für Tora keinen Zweifel mehr, wohin sie sich wenden musste. Der Riss konnte nur ganz in der Nähe der Kraft entstanden sein, die ihn verursacht hatte. Wenn sie also dem Sog folgte, der die Träume mit sich zerrte, würde sie den Verschollenen unweigerlich finden. Und als wäre mit dieser Gewissheit ein Schleier von ihren Gedanken gefallen, wusste Tora nun auch, was sie zu tun hatte. Wenn sie schon Fae nicht sofort unterrichten konnte, so konnte sie wenigstens den Jungen davor warnen, welche Konsequenzen sein Handeln hatte. Was auch immer er dort trieb, er musste sofort damit aufhören!
    Und so verschloss Tora Augen und Ohren vor dem Gewirr der Bilder und Landschaften und dem Kreischen, Stöhnen und Jammern der durcheinanderwirbelnden Traumgestalten, die in einem bizarren Tanz umeinandertrieben, und ließ sich mitziehen von dem trägen Strom, der weiter und weiter in Richtung Realität floss. Der Plan war gut – viel besser zumindest, als weiter ziellos umherzustreifen. Irgendetwas würde sie sicher tun können. Wenn es nur nicht schon längst zu spät war.
    Am nächsten Morgen konnte Nele sich nicht daran erinnern, wie sie schließlich ins Bett gekommen war. Sie hatte sich irgendwie im Anblick des Schauspiels verloren, das sich am Himmel abzeichnete. Es war schwer, den Blick abzuwenden, wenn man ihn einmal auf das schimmernde, tropfende Silberlicht gerichtet hatte, welches das Funkeln der Sterne, die Straßenlaternen und sogar den Mond verblassen ließ, ohne die Dunkelheit wirklich zu erhellen. Der Rest des Abends fehlte unerklärlicherweise in Neles Gedächtnis– sie wachte einfach auf, wie man auch im Traum von einer Szene zur nächsten sprang, ohne dass es einen logischen Übergang gab. Und hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte glauben können, sie träume immer noch. Es fühlte sich zumindest ganz so an. Aber sie konnte keine Fenster in andere Traumlandschaft öffnen, also musste sie doch wach sein. Nele probierte es ein paarmal, ohne Erfolg, bis sie sich fast hundertprozentig sicher war, dass sie ganz bestimmt nicht mehr schlief. Trotzdem führte sie ihr erster Weg, nachdem sie schlaftrunken aus dem Bett gestolpert war, direkt auf den Balkon ans Geländer, wo sie sich weit nach draußen lehnte und die Augen zusammenkniff, um gegen die helle Morgensonne besser sehen zu können.
    Der Riss war noch da.
    Weiß und schmal wie eine gezackte Narbe lief er über den strahlend blauen Frühlingshimmel, und an seinen Rändern meinte Nele noch immer das silbrige Schimmern zu sehen, das in der Nacht auf die Stadt heruntergetrieft war.
    Hastig wandte sie den Blick ab. Jetzt, bei Tag, spürte sie nicht annähernd die gleiche hypnotische Faszination wie am Abend. Dennoch war da noch immer ein dumpfes

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