Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
wenig spöttisch. »War es das, worüber du so dringend reden wolltest?«
»Quatsch.« Nele schüttelte unwillig den Kopf.
Seth legte den Kopf schief. »Sondern?«
Nele unterdrückte ein Seufzen. Mit Seth zu reden war wirklich nicht einfach. Sie zupfte an einem Faden, der sich am Saum ihres Pulloverärmels gelöst hatte. Irgendwie fiel ihr das Denken leichter, wenn sie ihre Hände mit etwas beschäftigen konnte. »Also weißt du, ich verstehe nicht…« Sie brach ab. Reiß dich zusammen, Nele! Drück dich klar und deutlich aus! Entschlossen hob sie den Blick und richtete ihn wieder auf Seth.
»Ich habe doch Jari gefunden, letzte Nacht«, setzte sie noch einmal an. »Ich habe mit ihm gesprochen, ich war mir ganz sicher.«
Seth musterte sie aufmerksam. »Ja, das hast du gesagt.«
Nele verschränkte die unruhigen Hände im Schoß. Sie musste sich jetzt konzentrieren! »Also, die Sache ist die. Ich habe ihn eigentlich nicht wirklich getroffen. Ich meine, wir haben uns nicht gegenübergestanden oder so. Da war nur diese Tür und dahinter das Nachtglas…«
Mit einem Ruck setzte Seth sich auf, und Nele verstummte abrupt. Sein Blick war auf einmal sehr wachsam. »Das Nachtglas?«
Nele nickte ein wenig verunsichert. »Ja. Ich hatte den Eindruck, Jari ist da drin… Was meinst du, kann das sein?«
Tiefe Falten erschienen auf Seths Stirn, und er schüttelte den Kopf. »Nein. Du musst dich irren. Das ist völlig unmöglich. Du weißt doch, Menschen können nicht im Nachtglas sein.«
Nele spürte, wie sich in ihr leise Ungeduld regte. Hielt er sie für blöd? »Ja, ich erinnere mich«, erklärte sie ein wenig schärfer als beabsichtigt. »Sehr gut sogar. Und deshalb erkenne ich das Nachtglas, wenn ich es sehe. Glaub mir, das vergesse ich nicht so schnell.« Sie holte einmal tief Luft. Jetzt nur nicht aufregen. Seth konnte schließlich auch nichts dafür, dass sie so ein Nervenbündel war. Oder zumindest war er nur zum Teil daran schuld. »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht. Vielleicht sind wir auf der falschen Fährte, und Jari ist gar nicht mehr in seiner Traumwelt. Vielleicht ist er irgendwie ins Nachtglas geraten und auf der falschen Seite wieder herausgefallen. In diese Unendlichkeit, von der du ständig gesprochen hast. Klingt doch logisch, oder?«
Seths Miene war nun sehr finster. Grübelnd starrte er auf die Bettdecke, in die er seine Finger hineingrub, als wolle er sie am liebsten in Stücke reißen.
Aber Nele ließ sich davon nicht einschüchtern. Erst jetzt, wo sie es aussprach, wurde ihr wirklich bewusst, wie gut ihre Vermutungen zusammenpassten und wie einleuchtend das alles klang. Die Unendlichkeit verband hinter dem Nachtglas die Träume der Menschen miteinander. Seth hatte das nur am Rande erwähnt– aber womöglich war das ja viel wichtiger, als sie zunächst geahnt hatten?
»Nehmen wir mal an, dass ich recht habe. Wäre es möglich, dass er dann vielleicht sogar in anderen Träumen auftaucht? Denen von anderen Menschen?« Vor Aufregung klang ihre Stimme ein bisschen dünn.
Seth hob den Kopf und sah sie aus schmalen Augen an. Sein Blick war immer noch finster. »Ich halte es zumindest für unwahrscheinlich. Wie kommst du denn darauf?«
Nele verschränkte die Arme vor der Brust. Es war nicht zu übersehen, dass Seth das alles gar nicht gern hörte. Aber so ganz kam sie noch nicht dahinter, warum. »Ich habe mich heute mit einer Freundin von Jari getroffen. Sie sagte, sie hätte ihn gesehen.«
Seth hob die Brauen. Er wirkte nun ziemlich ärgerlich. »Vielleicht hat sie einfach von ihm geträumt? Soll vorkommen, musst du wissen.«
Nele unterdrückte ein gereiztes Schnaufen. Warum konnte dieser Kerl nicht damit aufhören, sie zu behandeln, als wäre sie dumm? »Nein, das glaube ich nicht. Sie hat ihn auf einer Ebene mit einem Baum verfolgt. Und genau die habe ich letzte Nacht auch in Jaris Traumwelt gesehen! Das wäre ja wohl wirklich ein sehr großer Zufall, das musst du zugeben.«
Seth antwortete nicht gleich darauf. Eine ganze Weile verfiel er zurück in sein düsteres Grübeln. Dann aber schüttelte er den Kopf. Seine Miene war nun weniger ärgerlich, dafür aber sehr besorgt.
»Zufall oder nicht, es klingt für mich nach wie vor ziemlich abwegig. Aber wenn du recht hast…«
In diesem Augenblick erzitterte die Welt. Sekundenlang schien die Zeit stillzustehen, zu vibrieren wie unter dem Klang einer riesigen Glocke, der Seths Stimme einfach verschluckte. Dann zuckte ein grelles Licht
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