Wenn die Schatten dich finden: Thriller (German Edition)
Oder hatte Noah sich einen Rest Naivität bewahrt, was Mitchs Verdorbenheit anging? Hielt er ihn für böse, aber immer noch zu retten? Nein, er wusste seit Jahren, dass Mitchell keinen Funken Güte oder Moral besaß.
Unfähig, mit etwas noch Scheußlicherem aufzuwarten, schüttelte er bloß den Kopf. »Der wahre Killer genießt und schweigt.«
Mitch lachte kläffend und stieg die Stufen wieder hinunter. Langsam atmete Noah aus. Es würde alles zunichtemachen, müsste er seine Karten zu früh auf den Tisch legen, doch hätte Mitch sich auch nur einen Schritt weiter genähert, wäre sein Bruder jetzt tot.
»Komm in die Hütte. Ich habe ein paar Neuigkeiten.«
Noah folgte ihm. Jeder Unbeteiligte, der die beiden sah, würde meinen, sie wären nicht nur äußerlich identisch. Schon in frühester Kindheit hatte Noah gespürt, dass mit seinem Zwillingsbruder etwas nicht stimmte. Zwar war ihm damals nicht klar gewesen, was genau es war, doch Mitch und er hatten nie wie andere Brüder miteinander gespielt. Seit sie laufen konnten, hatte ihr Vater Mitch verwöhnt, während Noah am Rockzipfel seiner Mutter hing – Gott sei Dank. Er fragte sich stets, ob seine Mutter vielleicht das Böse in Mitch erkannt hatte. Falls ja, hatte sie ihn trotzdem nie anders behandelt als Noah, bis Mitch nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Sie betraten die kleine Hütte. Ein lavendelfarbener Slip lag auf dem schmutzigen Küchentisch. Verdammt! Noah nahm das zarte Spitzending auf. »Wie es aussieht, hast du an der Ware genascht.«
»Nee, das Teil habe ich ihr bloß runtergerissen, als sie hier ankam.«
Noah legte das Höschen zusammen und steckte es in seine Gesäßtasche. »Ich ziehe es ihr an, bevor ich sie irgendwo ablege.«
Mitch grinste. »Das ist das Mindeste, was du tun kannst.«
Er holte zwei Bier aus der Kühlbox, reichte Noah eines und hockte sich an den Tisch. »Der Truck kommt übermorgen. Wir holen uns morgen Abend das letzte Stück für die Lieferung in Arkansas.«
»Und wenn alle hier sind?«
»Dann verladen wir sie und bringen sie ins Lagerhaus vom Boss.«
»Er hat ein Lagerhaus in Biloxi?«
»Klar.«
»Und da kommt er hin und prüft die Qualität?«
»O ja, er macht das gern persönlich. Sobald es vorbei ist, werden sie aufs Schiff verladen.«
»Bringt ihr sie alle nach Thailand?«
»Keinen Schimmer, und das geht mich auch eigentlich nichts an. Ich will mein Geld kassieren und ein bisschen ausspannen. In einer Woche oder so meldet sich der Boss wieder bei uns.« Mitch trank einen großen Schluck Bier. »Deshalb wollte ich mit dir reden. Ich arbeite jetzt fast drei Jahre für den Boss. Wird Zeit für eine Beförderung. Ich habe ihn angerufen und von dir erzählt. Wenn er einverstanden ist, kannst du vielleicht für mich übernehmen.«
Noah schwang die Füße auf den Tisch, nahm einen Schluck Bier und rülpste. »Wie ist die Bezahlung?«
»Zweitausend pro Arsch, die du mit den Helfern teilen musst. Ich bezahle sie ziemlich großzügig, weil ich nicht will, dass sie mir in den Rücken fallen. Manchmal, wenn was richtig Süßes dabei ist, sagen wir, ein ganz junges Ding, gibt es einen Bonus. Die Boni teile ich nicht, denn die gibt es verflucht selten.«
Noah nickte verständig.
»Wie ist es? Bist du interessiert? Soll ich die Sache mit dem Boss klarmachen?«
»Verdammt, ja, und ob ich interessiert bin. Aber was machst du, wenn ich hier übernehme?«
»Weiß ich noch nicht. Der Boss hält seine Geschäfte hübsch getrennt. Sobald ich das hier hinter mir habe, siehst du mich wahrscheinlich nie wieder.«
»Soll mir recht sein.« Und das war absolut nicht gelogen.
Mitch griente. Er war kein bisschen beleidigt, denn ihnen beiden war klar, dass ihr Hass nie schwinden würde. »Dachte ich mir. Na ja, ich war dir was schuldig, weil du die Sache damals auf deine Kappe genommen hast. Aber jetzt sind wir quitt, klar?«
Von wegen! »Ja, wir sind quitt.«
Mitchs Blick schweifte kurz ab. Als er wieder zu Noah sah, erschrak der, denn Mitch hatte Tränen in den Augen. »Ich hab das noch gar nicht erwähnt, weil es so schwer ist, darüber zu reden. Weißt du, dass Daddy tot ist?«
O ja, Noah hatte sich zur Feier betrunken, als er es erfuhr. »Ja, das habe ich gehört.«
»Es hat mir das Herz gebrochen. Ich weiß, dass er ein dreckiger Hurensohn war, aber, verdammt, war er ein lustiger Kerl!«
Und wie lustig! Er landete einen Brüller nach dem nächsten. »War er.« Mitch konnte nicht wissen, dass Noah damit den
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