Wenn Die Seele Verletzt Ist
Gesetze erlassen, wiedereinmal von Generälen initiiert, die bei so vielen unterernährten, kranken Kindern einen eklatanten Soldatenmangel auf sich zukommen sahen. Daß Eltern die täglich den Hungertod befürchten müssen, keine Kraft mehr für die liebevolle Betreuung ihrer Kinder haben, ist gut verständlich. Wenn wir heute auch nicht mehr ganz so schlimme Geschichten hören wie vor hundertfünfzig Jahren, erzählen unsere Klienten doch häufig von der bitteren Armut ihrer Eltern oder Großeltern. Arbeiter- und Bauernfamilien hatten häufig dreizehn bis sechzehn Kinder, von denen viele starben. Die Überlebenden berichten von äußerst beengten Wohnverhältnissen und ständigem Hunger. Kinder, für die „es nicht reichte“, wurden in ländlichen Gebieten bereits mit sechs Jahren an andere Höfe abgegeben. Als sogenannte „Hütekinder“ waren sie für das Vieh zuständig, erhielten dafür einen Platz zum Schlafen und gerade genug Nahrung, daß sie nicht verhungerten.
Bei anderen Familien reichten die Mittel zwar gerade, um die Kinderschar zu ernähren und zu kleiden. Die Eltern mußten jedoch so lange und so hart arbeiten, daß das einzelne Kind keinerlei persönliche Ansprache durch Vater oder Mutter erwarten konnte. Dagegen waren Prügel an der Tagesordnung. Oft mußten ältere Schwestern, die häufig völlig überfordert waren und ihre Pflichten nur ungern erledigten, die Erziehungs- und Pflegeaufgaben für ihre jüngeren Geschwister übernehmen. So waren jüngere Kinder der Willkür der Älteren ausgeliefert. Die älteren Geschwister einer unserer Klientinnen zum Beispiel entledigten sich des ungeliebten Anhängsels, indem sie die Dreijährige stundenlang an einen Baum banden oder sie in einen Schuppen sperrten. Eltern, die als Kinder so vernachlässigt wurden, neigen dazu, ihre Kinder auch nicht gerade mit Liebe und Aufmerksamkeit zu verwöhnen.
Heute führt im deutschsprachigen Raum nur sehr selten die materielle Not dazu, daß Kinder in ihren Familien vernachlässigt werden; wir haben es mit neuen Formen von Vernachlässigung zu tun. Viele Kinder sind sich selbst überlassen und verbringen erschreckend viel Zeit vor dem Fernsehen und dem Computer. Da in Computerspielen alle Probleme mit Gewalt „gelöst“ und diese „Lösungen“ mit noch mehr „Action“ belohnt werden, wundert mich nicht, daß Gewalt auf dem Schulhof „normal“ geworden ist. Die Zahl der insolcher Weise vernachlässigten Wohlstandskinder nimmt in erschreckendem Maße zu.
Außerdem sind immer weniger junge Frauen bereit, nach der Geburt ihres Kindes beruflich zu pausieren. Ich vertrete hier keineswegs die Meinung, die Frauen sollten zurück an den Herd; ich selbst lebe völlig anders. Doch aus der Bindungsforschung wissen wir, wie entscheidend wichtig gerade das erste Lebensjahr für Kinder ist. Immerhin sind 70% der Kinder nicht berufstätiger Mütter sicher gebunden und nur 50% der berufstätigen (Huber, S. 89). Entscheidend ist zwar die Qualität und nicht die Quantität der Bindung, doch nach einem harten Arbeitstag ist es schwer, sich auf ein möglicherweise quengelndes Kleinkind liebevoll einzulassen.
Darüber hinaus beobachte ich, daß sich viele junge Frauen vor allem auf die Belastungen fixieren, die die Betreuung eines Kleinkindes bedeuten. Ich will durchwachte Nächte, Zahnungskrisen und Kinderkrankheiten hier nicht schönreden; das habe ich alles selbst erlebt und nicht genossen. Doch ist dies nur die eine und meiner Überzeugung nach die weniger bedeutende Seite der Medaille. Die andere besteht aus dem einzigartigen Erlebnis, entscheidend dazu beizutragen, daß sich ein Kind im „sicheren Hafen“ weiß, und diesen Hafen mit ihm zu teilen. Jungen Frauen würde ich wünschen, sich selbst und ihrem Kind wenigstens dieses Jahr zu gönnen.
Vernachlässigte Kinder neigen eher dazu, bei Konflikten feindselig zu reagieren. Sie haben größere Probleme mit der Regulierung ihrer Gefühle. Kinder, die ihre Gefühle nicht regulieren können, gelten als schwierig. Aus diesem Grund haben sie ein hohes Risiko, in ihren Familien psychisch und/ oder körperlich mißhandelt zu werden. Sie fallen im Kindergarten und in der Schule unangenehm auf, werden dann häufig mit Medikamenten „beruhigt“ und beginnen damit eine zweifelhafte Karriere. Viel zu wenig Lehrer wissen mit solchen Kindern umzugehen – was ja eigentlich auch nicht ihre Aufgabe ist –, und es entsteht ein Teufelskreis, den in jedem Falle das Kind verliert. Die
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