Wenn Die Seele Verletzt Ist
Diese Frustration führt zu weiteren Spannungen, die in neue aggressive Bestrafungen des Kindes münden. Bei zwei Dritteln der Kinder, die wegen Mißhandlung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden, bessern sich die durch die Traumatisierung entstandenen Symptome (ebd. S. 166).
Es gibt keine hundertprozentigen Anzeichen, an denen man ein mißhandeltes Kind erkennen könnte. Häufig zeigen solche Kinder ein ambivalentes Bindungsverhalten, das heißt, daß sie intensive Nähe suchen, um sich plötzlich spontan abzugrenzen. Die Abgrenzung geschieht je nach Temperament des Kindes entweder durch aggressive Ausbrüche oder durch ängstlichen Rückzug. Deutlicher wird das Bild, wenn sich das Kind selbst verletzt oder wenn es in seiner körperlichen, psychischen und sprachlichen Entwicklung verzögert ist.
Auch heute noch erzählen Teilnehmer in unseren Kursen, daß sie ihre Kinder zum Teil heftig prügeln und sogar würgen. Eine Teilnehmerin berichtete, daß ihr Kind eine solche Attacke knapp überlebt habe. Alle Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, sind als Kinder selbst seelisch, körperlich und häufig auch sexuell schwer mißhandelt worden. Alle Eltern litten unter ihren aggressiven Ausbrüchen, fühlten sich ihren Kindern gegenüber schuldig und nahmen für sich und ihre Kinder therapeutische Hilfe in Anspruch. Von vielen wissen wir, daß sie ihr Verhalten dauerhaft ändern konnten. Es bleibt zu hoffen, daß immer mehr Eltern diesen Weg gehen, damit sie und ihre Kinder endlich heil werden.
Sexueller Mißbrauch
Eine besonders perfide Form der körperlichen Mißhandlung ist der sexuelle Mißbrauch. Das Lehrbuch (Engfer in Egle, S. 30) definiert: „Unter sexuellem Mißbrauch versteht man die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen. Dabei benutzen bekannte oder verwandte (zumeist männliche) ältere Jugendliche und/oder Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und mißbrauchen das vorhandene Macht- und Kompetenzgefälle zum Schaden des Kindes.“ In 30-45% aller Fälle geht der Mißbrauch von jugendlichen, oft nicht viel älteren Tätern aus. Noch vor wenigen Jahren wurden vor allem Mädchen sexuell mißbraucht. Durch die Verbreitung von Kinderpornographie im Internet ist die Anzahl der durch Männer mißbrauchten Jungen jedoch besonders in Ostasien und Rußland, aber auch in Westeuropa sprunghaft angestiegen.
In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird der sexuelle Mißbrauch nach der Intensität des Übergriffs unterschieden:
• Leichtere formen: Exhibitionismus, anzügliche Bemerkungen, das Beobachten des nackten Kindes gegen seinen Willen, das Zeigen von Pornos;
•Schwerer Mißbrauch: Berühren oder Betasten der Genitalien oder Masturbationshandlungen vor dem Kind;
•Intensiver Mißbrauch: versuchte oder vollzogene orale, anale oder vaginale Vergewaltigung; das Kind wird gezwungen, den Täter oral zu befriedigen oder – bei Jungen – mit ihm anal zu verkehren (Engfer in Egle, S.31).
Auslösende Faktoren für einen Mißbrauch können sein:
Alkohol- oder Drogensucht, die die Impulskontrolle des Mannes mindern und das Leugnen der Tat fördern;
Akuter Streß wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Todesfälle in derFamilie, Familienzuwachs;
Abwesenheit der Mutter, wodurch in gefährdeten Familien männliche Familienmitglieder die Gelegenheit zum Mißbrauch bekommen.
Sexueller Mißbrauch kommt in allen sozialen Schichten vor. Oberflächlich gesehen fallen diese Familien nicht aus dem Rahmen. Verschiedene Forscher versuchten deshalb herauszufinden, ob es nicht doch Merkmale gibt, die Inzestfamilien von anderen unterscheiden. Madonna entwickelte die Beavers-Timberlan Family Evaluation Scale (1991), mit Hilfe derer die Interaktions- und Kommunikationsmuster in Inzestfamilien untersucht werden konnten (Joraschky in Egle, S. 93). Ich fasse die Ergebnisse hier kurz zusammen:
Da es sich bei Mißbrauch immer um Grenzverletzung handelt, ist diese einer der wichtigsten Faktoren. Obwohl sich die Familien gegenüber der Außenwelt abschotten, sind die Grenzen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern – besonders aber zwischen den Generationen – unklar und verwaschen. Die Möglichkeiten des einzelnen, über Nähe und Distanz zu bestimmen, sind beschränkt. Gefühle, Handlungen und Gedanken anderer Familienmitglieder
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