Wenn die Sinne erwachen - Teil 2 (German Edition)
faulige,
brackige Wasser, das vermutlich die Ruhr ausgelöst hatte.
Der
Blick in den strahlend blauen Himmel wurde immer mehr zur Tortur,
denn es zeigte sich auch am dritten Tag nicht ein einziges, winziges
Wölkchen, das zumindest etwas Wind versprach. Die ungewöhnliche
Flaute hielt unvermindert an und ließ die Stimmung an Bord
gefährlich kippen.
Die Zahl der Kranken hatte sich mittlerweile
auf vierunddreißig erhöht. Und schon drohte eine neue Gefahr.
Sollte der Krankenstand weiter so rasant ansteigen, und gar die
Hälfte der Mannschaft erfassen, würde der kritische Punkt erreicht,
an dem sich das Schiff nicht mehr vernünftig segeln lassen würde.
Am vierten Tag der Flaute verbreitete sich eine Nachricht wie ein
Lauffeuer auf dem Schiff. Die beiden zuerst Erkrankten waren in den
frühen Morgenstunden verstorben. Von da an wollte niemand mehr
freiwillig dem Doktor bei der Pflege der Kranken helfen. Jeder hatte
Angst davor sich anzustecken. Spätestens jetzt war jedem klar, wie
tödlich die Bedrohung war.
Captain Albert Pickett befahl
daraufhin, fünf Männer zur Hilfe des Arztes abzukommandieren. Er
beauftragte seinen ersten Offizier, die fünf geeignetsten Männer
auszusuchen. Pickett ließ es sich nicht anmerken, aber es war ihm
eine außerordentliche Freude, dass ausgerechnet sein sonst so
mannschaftsfreundlicher erster Offizier, diese undankbare Aufgabe zu
übernehmen hatte. Die Mannschaft würde ihn dafür hassen. Denn die
von ihm gewählten Fünf, würden von da an den Quarantänebereich
nicht mehr verlassen dürfen, es sei denn, der Doktor verbürgte sich
für ihre Gesundheit. Von diesem Zeitpunkt an waren diese fünf
Männer dem Tod einen deutlichen Schritt näher – und jeder wusste
das.
Edan fühlte sich, als ob jemand Tonnen von Blei auf
seinen Schultern abgeladen hätte. Ihm oblag die furchtbare Aufgabe,
fünf Männer auszusuchen und sie sehenden Auges in den möglichen
Tod zu schicken. In diesem schweren Augenblick verfluchte er zutiefst
seinen Offiziersrang und die Bürde, die damit einherging. Er wusste,
dass dies zu seinen Aufgaben gehörte. Aber er hatte nie damit
gerechnet, so eine schwere Entscheidung jemals treffen zu müssen.
Sein Gewissen schlug ihm bis zum Hals und er hätte alles darum
gegeben, in diesem Moment tausende Meilen von der verfluchten Royal
Sun entfernt zu sein. Lieber würde er nochmals jedes einzelne der
vergangenen grausamen Seemanöver durchkämpfen, in denen er zwar
auch gezwungen gewesen war zu töten – aber da hatten seine Gegner
zumindest Waffen in der Hand gehabt und die Möglichkeit sich zu
wehren.
Hier jedoch musste er Wehrlose dazu verdammen, gegen
einen tödlichen Gegner anzutreten, den man nicht sehen, riechen,
fühlen oder hören konnte. Als erster Offizier konnte er sich noch
nicht einmal freiwillig für das Todeskommando melden, denn das ließ
die strenge Hierarchie an Bord nicht zu. Sein Rang als Offizier
machte sein Leben automatisch ungleich viel wertvoller, als das eines
einfachen Matrosen.
Seinem Gesicht war nichts anzumerken, als er
die Reihe der verbliebenen gesunden Männer abschritt, die alle
seinem Blick auswichen, aus Angst, er könnte missverstanden werden.
Edan wusste, es war egal wen er aussuchen würde – alle würden ihn
dafür hassen. Heute waren es nur fünf - morgen könnte jeder von
ihnen schon der Nächste sein.
Das Blei auf seinen Schultern wog
umso schwerer, weil er mit einem Großteil der Mannschaft bereits
seit über fünf Jahren Dienst auf diesem Schiff tat. Manch einer der
Männer hatte ihm im Gefecht den Rücken freigehalten – und
umgekehrt. Doch das alles zählte jetzt nicht mehr. Er musste eine
Entscheidung treffen.
„Meldet sich jemand freiwillig?“, rief
er den zu Boden starrenden Männer zu und war dabei selbst erstaunt,
wie gefasst und ruhig seine Stimme klang. Innerlich war er zutiefst
aufgewühlt.
Betretenes Schweigen war die einzige Antwort. Eine
seltsame Stille lag über dem Schiff. Kein Lüftchen ging, nichts
bewegte sich – nicht einmal das Meer rauschte. Die See war
spiegelglatt und ruhig.
Edan fluchte innerlich zum hundertsten
Mal. Er drehte sich um, winkte Steuermann Thomas Slade zu sich heran
und gab ihm Anweisungen. Alle sahen zu wie Slade in der
Offiziersmesse verschwand.
Die Minuten vergingen, jeder stand
regungslos auf seinem Platz und wartete darauf, wie es weiter gehen
würde. Auch Captain Pickett schaute vom Achterdeck interessiert zu,
was sein erster Offizier vorhatte. Wenig später kam Slade mit
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