Wenn die Wahrheit nicht ruht
eines überraschten Passanten.
„Oh! Bitte entschuldigen Sie!“ Verlegen sah Leonie endlich auf. Gleichzeitig setzte auch der überrumpelte Mann an. Komplett aus dem Konzept gebracht, fiel seine Antwort schroff und unfreundlich aus. „Ja, ja, ist ja schon gut!“ Er packte Leonie bei den Schultern und wollte sie aus dem Weg schieben. Mit einem Mal verstummte Leonie. Mechanisch hob sie den Kopf. Die Blicke trafen sich und für einen winzig kleinen Moment, schienen beide gleichzeitig voneinander zurückzuweichen. Der Mann hatte sich aber schnell wieder im Griff, schob sich an Leonie vorbei und eilte mit gesenktem Kopf davon.
Verdattert starrte sie ihm nach. „ Ich kenne den Typ en . Aber woher? “ Während er sich weiter entfernte , musterte sie seine Rückseite von Kopf bis Fuss. Ihr fiel auf, dass er leicht hinkte, aber das half ihrer Erinnerung nicht auf die Sprünge. Skurriler Typ, schoss es ihr spontan durch den Kopf. Schulterzuckend wandte sie den Blick s chliesslich ab und setzte den Weg zu ihrem Ziel fort.
Eigentlich wollte sie sich mit Angela an einen etwas ungestörteren Tisch setzen , aber um diese Tageszeit herrschte relativ viel Betrieb im Lokal , also entschied sie sich, an der Bar zu warten. Die Angestellte war gleich zur Stelle.
„Hey , du bist doch Saschas Neue, oder?“
„Wie bitte?“
„Na , die neue Saisonarbeiterin. Hab ’ schon von dir gehört. Scheinst deine Arbeit gut zu machen.“ Leonie wusste nicht, wie sie das Augenzwinkern der Kellnerin einordnen sollte, also überging sie es und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Person selbst. Die Lady war ziemlich in die Jahre gekommen, ihr Verhalten und ihre Aufmachung liessen aber darauf schliessen, dass sie das nicht weiter störte oder sie es einfach ignorierte. Sie wirkte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, als exakt hinter dieser Bar zu stehen . Ihre Bluse war geradezu unanständig tief ausgeschnitten und erlaubte einen anständigen Blick auf das, was sie zu bieten hatte. Und zu bieten hatte sie reichlich. Als hätte sie Leonies Gedanken gehört, lehnte sich die Frau so an die Theke, dass ihr Vorbau sich unübersehbar darauf abstützte. „Was willst du trinken, Kleine?“
„Ich hatte zwar noch kein Frühstück, aber für einen Martini bianco ist immer der richtige Zeitpunkt .“
Der Blick der Frau huschte zu der grossen Uhr an der Wand, dann lächelte sie Leonie wissend an, bevor sie sich den Schnapsflaschen zuwandte. Leonie liess den Blick durch das Lokal schweifen, ohne wirklich etwas zu sehen. Doch dann blieb ihr Blick am Zeitungsständer hängen. Eine Zeitung war unordentlich in die Halterung zurückgestopft worden, so, dass Leonies Blick nicht an der ersten Seite, sondern auf derjenigen, die offenbar zuletzt gelesen worden war, hängen blieb. Aber nicht die eigentliche Unordnung hielt Leonies Aufmerksamkeit gefesselt. Es war das Bild, das auf der Seite prangte. Noch bevor sie sich weitere Gedanken dazu machen konnte, stellte die Kellnerin den Martini vor ihrer Nase ab. Als sie bemerkte, dass die Aufmerksamkeit ihres Gastes ganz woanders war, regte sich ihre Neugierde, weshalb sie Leonies Blick folgte und genauso an dem Bild hängen blieb. Es war ein Foto der beiden Leichen, die kürzlich aus dem Gletscher gezogen worden waren und von denen inzwischen klar war, dass einer der beiden Moritz Amstutz war. Leonie hätte die beiden Leichen beinahe vergessen.
„Ah, ich seh ’ schon. Schlimme Sache, nicht wahr?“
Leonie hatte eigentlich keine Lust darüber zu sprechen, weshalb sie abweisend antwortete: „Keine Ahnung, habe nur am Rand davon gehört. Danke für den Drink!“ Ihre Hoffnung, dass das Thema damit erledigt war , zerschlug sich umgehend.
„Oh, da hast du aber was verpasst. Obwohl, als das alles passiert ist, hast du wahrscheinlich noch gar nicht gelebt. Ich sag dir, das w ar ein komisches Jahr, dieses ’ 86 .“
Mit einem Mal durchfuhr ein aufgeregtes Kribbeln Leonies Körper. Diese Reaktion entging der Kellner keineswegs. Sie wusste, nun hatte sie ihren Gast an der Angel. Während die Frau allerdings glaubte, das plötzliche Interesse sei pure Sensationslust, hatte Leonie vollkommen andere Beweggründe.
„Warum? Was war denn da?“
„ Ganz einfach , zuerst verschwindet Josef , dann wird der Ambros so mir nichts dir nichts verhaftet. Nachher findet man anstelle von Moritz nur noc h eine Blutlache und eine verzweifelte Ehefrau in seinem Haus, bis schliesslich , 24 Jahre später , der Gletscher die
Weitere Kostenlose Bücher