Wenn die Wahrheit nicht ruht
Lenzerheide war er mein Mitbewohner.“ Leonie zeichnete mit ihren Fingern zwei Anführungsstriche in die Luft.
„Aha, Mitbewohner. Schon klar.“
Der Kellner kam an den Tisch und die beiden Frauen hoben ihm ihre Köpfe entgegen, womit die vertraute Plauderei kurz unterbrochen wurde. Ein Blick auf L eonies Glas reichte aus und im g egenseitigen Einverständnis bestellten sie gleich eine ganze Flasche Rotwein und etwas Kleines zu Essen . Sobald der Kellner sich wieder entfernt hatte, steckten sie auch die Köpfe erneut zusammen. „Wo waren wir? A h, bei deinem Mitbewohner. Das v ertiefen wir dann noch, genauso wie das andere. Nun aber zurück zu deinem Erlebnis.“
„Das andere?“ Angela winkte ab und Leonie fuhr achselzucken d fort. „Also, ich habe ihm ebenfalls erzählt, was auf dem Berg passiert ist u nd dann hat er sich für Nachforschungen angeboten. Ich fand das ziemlich lächerlich, denn wo sollte man an fangen? War es ein Hirngespinst - wovon ich ausging - würde man nich ts erfahren und abgesehen davon, gibt es niemanden, der sich jeden einzelnen Unfall merkt, der sich vielleicht auf dem Seetalhorn einmal ereignet hat.“
„Klingt tatsächlich etwas unwahrscheinlich. Aber verlieren kannst du wiederum auch nichts.“
„Genau das habe ich auch gesagt. Und Sören meinte, er hätte eh nichts Besseres zu tun. A lso liess ich ihn machen.“
„Und? Hat er etwas herausgefunden?“ Als Leonie nickte, riss Angela überrascht die Augen auf. „ Ist nicht dein Ernst! Was? Was ist es?“
Die Flasche Wein wurde gebracht und nach der gutgeheissenen Kostprobe und dem Befüllen der Gläser erzählte Leonie nicht nur , was Sö ren ihr zuvor mitgeteilt hatte, sondern auch, wie das Telefonat mit ihrer Mutter verlaufen war. Als sie geendet hatte, liess sich Angela in den Stuhl zurückfallen und atmete erst einmal schwer aus. Ihr wurde ein wenig schwindelig, was aber auch am Wein liegen konnte . „Wow. Das nenne ich eine Geschichte! Und wie geht’s nun weiter?“
„Wenn ich das wüsste. Zurzeit bleibt mir wohl nichts anderes, als darauf zu warten, bis sich meine Mutter in der Lage sieht, mich aufzuklären.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. In der Zwischenzeit“, Angela beugte sich wieder vor , setzte beide Ellbogen auf den Tisch, stützte ihr Kinn auf die verschränkten Hände und grinste Leonie an, „ kannst du mir bestimmt etwas über Sebastians neusten Gemütszustand erzählen.“
1986
Von irgendwo ganz weit her hörte Verena Stimmengewirr. Sehen konnte sie nichts, alles war dunkel. Dann ertönte ein lautes Krachen und im nächsten Moment meinte sie, berührt zu werden. Weg, dachte sie, geh bloss weg. Aber das Zerren und Schütteln liess nicht nach. Also schrie sie. Aber man liess immer noch nicht von ihr ab. Sie versuchte noch lauter und eindringlicher zu schreien, aber was es auch war, es war hartnäckig. Beim Gedanken an das Was geriet sie beinahe in Panik. Was zerrte an ihr? War sie in einen Fluss gestürzt, der sie erbarmungslos mitriss? War sie gar in eine Lawine geraten und wirbelte nun hilflos mit den ungestümen Schnee massen ins Tal? Schnee. Da war doch etwas. Winter. Ferien. Ski. Skifahrer. Unfall . Oh mein Gott, Marc! Als hätte sie jemand ins Gesicht ges chlagen, riss sie die Augen auf und sah sich mit zwei konzentrierten , aber unbekannten Gesichtern konfrontiert. „Was … ?“ Es war kaum mehr als ein schwaches S töhnen.
„Sie komm t zu sich! Frau Ebner? Geht es I hnen gut?“ Eine r der Männer riss ihr Augenli d hoch und blendete sie mit einer Taschenlampe. „ S ie scheint wieder da zu sein.“
Verwundert darüber, was um sie herum geschah, liess Verena sich in eine sitzenden Position ziehen u nd mit dem Rücken an die Wand lehnen. „Können S ie aufstehen?“ Irgendwie war sie nicht Herr über ihren Körper, versuchte aber dennoch ein Nicken zu bewerkstelligen. Es schien funktioniert zu haben, denn die Männer liessen von der Trage ab, stellten sie auf die Beine und stützten sie. Langsam gingen sie zusammen auf die Wohnungstür zu. Irgendwo hörte sie eine Männerstimme rufen, er würde sicherheitshalber die Handtasche mitnehmen. Marc? Dachte sie nur , und im nächsten M oment war wieder alles schwarz
Wieder diese Stimmen aus der Ferne. Was war nur los? Diesmal klang es aber freundlicher, sanfter. Weniger abgebrüht. Wer war das? Trotz der Kraftlosigkeit versuchte Verena die Augen zu öffnen und schien es auch zu schaffen.
„Mama?“ D as leise Wispern
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