Wenn die Wahrheit nicht ruht
Krankenbett. Durch den ganzen Tumult aufgeschreckt zog sich Leonie schleunigst wieder zurück. Sie erreichte ihr Versteck gerade noch , bevor man sie entdeckte . Den Kopf auf die angezogenen Beine gelegt, wiegte sie sich dann selbst beruhigend hin und her, während direkt neben ihr lauter weiss beschuhte Füsse geschäftig hin und her eilten . Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit , wurde es etwas ruhig er im Zimmer. Nachdem die vier Menschen in ihrer weissen Kleidung den Raum verlassen hatten, wurde es schliesslich beängstigend still. Totenstill.
Eine Weile blieb Leonie einfach weiter sitzen. Solange, bis diese Lautlosigkeit zu einer erdrückend schweren Last wurde. Erneut kroch sie aus ihrem Versteck. Nur noch kurz warf sie einen traurigen Blick auf das Bett ihres Vaters. Sie war zwar noch sehr jung, aber sie spürte deutlich, dass das , was dort lag, nichts mehr mit dem zu tun hatte, was einmal war. Schliesslich verliess sie das Zimm er , um auf ihre Mutter zu warten, die dann auc h kam. Oder eher gebracht wurde und vor deren Bett sie nun Wache hielt.
Doch p lötzlich öffnete sich die Tür erneut. Sofort schnellte Leonie dorthin, wo sie sich auch schon im anderen Zimmer sicher gefühlt hatte. Hinter den Stuhl und unter das Fensterbrett mit Blick auf den Eingang . Sie kon nte sehen, wie ein Mann eintrat, der mit blankgeputztem Schuhwerk langsam auf sie zutrat. Sie konnte zwar abermals sein Gesicht nicht sehen, aber die Schuhe erkannte sie wieder. Dieser Mann hingegen ging gar nicht erst an das Bett heran. Als er stehen blieb, zeigten die Schuhe geradewegs in ihre Richtung. Der Schatten über ihr wurde grösser und sie zog sich so weit wie irgend möglich in ihre Ecke zurück. Beim A uftauchen eines Gesicht s vor sich, erschrak sie erst , bevor Erleichterung folgte.
„Willst du da nicht raus kommen?“ Peter , der nette Polizist , hielt eine Tafel Schokolade in der einen Hand und streckte ihr die andere entgegen. „ Weiss t du, meine Frau hat gesagt, ich darf nicht so viel Schokolade essen. Darum könnte ich etwas Hilfe gebrauchen.“
Der innere Kampf um die richtige Entscheidung fiel dieses Mal kurz aus. Scheu kroch Leonie aus ihrem Versteck hervor.
„Wollen wir nicht hinaus gehen, damit wir deine Mama nicht wecken?“
Leonie ergriff die dargebotene Hand und liess sich aus dem Zimmer und zu den Stühle n davor führen. Der Polizist brach ein Stück der Schokolade ab und reichte es Leonie.
„Gut?“ Insgeheim fragte er sich, wie es Kinder innert weniger Sekunden schafften, die braune Masse überall zu verschmieren.
„Weiss t du, wer noch Schokolade mag?“
„Nein, wer denn?“
„Lilli .“
„Ist Lilli deine Freundin?“
„Ja. Sie ist jetzt aber ganz alleine im Haus und hat bestimmt Angst.“
„Du wirst Lilli bald wieder sehen, sorge dich nicht. Aber Leonie, wei ss t du, was hier alles passiert ist? Soll ich es dir zu erklären versuchen?“
„Ich weiss, dass Papa jetzt mit den Engeln fliegt. Ich weiss auch, dass niemand so genau weiss , warum. Sein Herz ist einfach stehen geblieben, haben die Ärzte gesagt. Aber warum Mama so komisch ist und wie lange ich hier bleiben muss, weiss ich nicht.“ Betrübt schob sich Leonie ein weitere s Stück der süssen Versuchung in den Mund.
„Gut. Wir haben deine Grosseltern informiert. Die haben sich sofort auf den Weg gemacht. Sie werden dich abholen und eure Sachen aus der Ferienw ohnung mit nehmen. Dann wirst du auch Lilli wiederbekommen. Deine Mama hat sich sehr grosse Sorgen gemacht und sie hat heut e um dich und um deinen Papa viel Angst gehabt. Jetzt, da dein Papa mit den Engeln fliegt, wird sie viele schwierige Sachen machen müssen. Dabei kannst du ihr manchmal vielleicht ein bisschen helfen. Aber bis ihr alle nach Hause fahrt, wird es ihr bestimmt soweit wieder besser gehen , dass sie euch begleiten kann. Hast du das alles verstanden?“
Leonie dachte kurz nach. Dann nickte sie .
„ Gut. Da bin ich froh.“ Er war tatsächlich erleichtert. Das Mädchen hatte mehr durchgemacht als erträglich war . E r hoffte inständig, sie möge alles unbeschadet verkraften. „ Möglicherweise wirst du eine Weile bei deinen Grosseltern bleiben müssen, aber das wird bestimmt Spass machen. Bist du gerne bei deinen Grosseltern?“
„Und ob! Die haben so viel Land und Bäume und Tiere! Die Katze mag ich am liebsten.“
Wie auf Kommando glitten die Flügeltüren der Abteilun g auf und zwei ältere Menschen traten ein. Die Frau hatte ihr graues Haar zu
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