Wenn Die Wahrheit Stirbt
eine willkommene Zuflucht vor der Hitze wie auch vor den Menschenmassen. Es war eine amerikanische Kette, und für Amerikaner hatten Klimaanlagen offenbar so etwas wie eine religiöse Bedeutung - eine nationale Eigenart, für die Melody in diesem Augenblick zutiefst dankbar war. Sie hatte Zweifel, ob an der Bluse unter ihrer Kostümjacke, die sie am Morgen frisch angezogen hatte, noch ein trockener Faden war.
Als alte Stammkundin steuerte sie schnurstracks das Regal mit den Fertiggerichten am hinteren Ende des Markts an. Nach kurzem Überlegen wählte sie eine Packung Karottensuppe mit Koriander und einen kleinen Plastikbecher Granatapfelsalat. Anschließend machte sie noch einen spontanen Abstecher in die Weinabteilung und nahm eine Flasche Pinot Grigio mit.
Nach ihrem späten Lunch mit Gemma sollte das als Abendessen genügen, und ohnehin war ihr Einkauf ebenso sehr eine Verzögerungstaktik wie eine Notwendigkeit. Auf dem Weg zur Kasse kam sie an der Austern- und der Champagnerbar vorbei, und sie versuchte sich ein Leben vorzustellen, in dem sie ohne Schuldgefühle auf die eine wie die andere zumarschieren und bestellen könnte, worauf sie Lust hatte.Vielleicht würde sie bei ihrem nächsten Besuch hier einfach mal ein bisschen mehr wagen.
Der DJ an dem Mischpult in der Nähe des Eingangs blickte auf, als sie vorbeikam, und schenkte ihr ein Lächeln, während er Corinne Bailey Raes »Put Your Records On« auflegte.
Sie lächelte zurück - ein Luxus, den sie sich normalerweise nicht erlaubte - und musste sich Mühe geben, um sich nicht im Rhythmus der Musik zu wiegen.
Doch ihr momentaner Überschwang verflog rasch wieder, als sie auf die Straße trat. Sie ging weiter, die Tasche mit ihren Einkäufen in einer Hand, und grübelte über das nach, was sie an diesem Nachmittag in Lucas Ritchies Club gesehen hatte.
Sie hatte einen der Männer, die zur Tür hereingekommen waren, zu erkennen geglaubt, und zwar nicht, weil sie ihm schon einmal begegnet wäre, sondern von einem Foto, das sie vor nicht allzu langer Zeit in der Zeitung gesehen hatte.
Nun, sie hatte ja schließlich die Möglichkeit, auf ein Archiv zuzugreifen, wann immer sie wollte, und an diesem Abend konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, davon Gebrauch zu machen, trotz der Risiken, die damit verbunden waren.
Sie bog um die Ecke und blickte zu dem prächtigen Art-déco-Gebäude auf, in dem einer der größten Lieferanten von Klatsch und Sensationsschlagzeilen im ganzen Land seinen Sitz hatte - die Chronicle. Melody benutzte ihre Schlüsselkarte, um die Tür zu öffnen.
»’n Abend, Miss Melody«, sagte der Wachmann am Empfang, als sie durch die Lobby zu den Aufzügen ging. »Ihr Vater ist gerade gegangen.«
»Das macht nichts, George.« Melody betrat den Lift und drückte den Knopf für den obersten Stock.
19
Im Januar 1978 hatte Margaret Thatcher in einem viel beachteten Fernsehauftritt von der Angst der Weißen gesprochen, »von Menschen mit einer anderen Kultur überschwemmt« zu werden. Die weiße Panik war da schon losgetreten worden und ließ sich nicht mehr eindämmen. Bangladeschische Mieter mussten immer häufiger Schikanen erleiden, und die Welle der Gewalt griff bereits auf die Straßen über.
Geoff Dench, Kate Gavron, Michael Young: The New East End
Melody musste an der Redaktion vorbei. Sie beschleunigte ihren Schritt und nickte ein paar vertrauten Gesichtern zu, blieb aber nirgends stehen, um zu plaudern, und hoffte nur inständig, dass sie nicht Quentin, ihrem Blind Date von neulich, über den Weg laufen würde.
Rasch schlüpfte sie durch die Tür der verglasten Bürosuite ihres Vaters und stellte erfreut fest, dass auch seine übereifrige Sekretärin Maeve bereits gegangen war.
Offenbar gab es keine wichtigen Meldungen oder saftigen Skandale, die den Eigentümer der Chronicle noch so spät an seinen Schreibtisch gefesselt hätten.
Niemand hatte ihr Recht, sich hier aufzuhalten, in Frage gestellt - niemand würde es wagen, Ivan Talbots einziges Kind zu kritisieren. Das hier war von frühester Jugend an ihre Welt gewesen - das pulsierende Herz der großen Zeitung, mit der
Hektik und dem Nervenkitzel von Eilmeldungen und schreienden Schlagzeilen, im Wechsel mit der Eintönigkeit der endlosen nachrichtenarmen Tage, an denen man irgendwie die Seiten füllen musste.
Es könnte immer noch ihre Welt sein, wenn sie sich dafür entschiede, und ihr Vater hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass sie diese Schnapsidee mit
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