Wenn Die Wahrheit Stirbt
Sowohl die Liege als auch der Lampenschirm waren mit geblümtem Chintz bezogen, in einem so originellen, verspieltbunten Patchworkmuster, dass Gemma lächeln musste. Auf dem Boden neben der Chaiselongue stapelten sich Bücher zu schwankenden Türmen. Gemma ging in die Hocke, um die Titel zu lesen. Einige waren Bildbände über georgianische Architektur und Inneneinrichtung,Textildesign, Geschichte der Malerei und der Möbelkunst. Aber daneben sah sie auch Bücher über das East End, zerfledderte Romane mit Eselsohren und Bilderbücher für Kinder, darunter einige von Tobys Lieblingsautorin Shirley Hughes.
Ganz oben auf dem höchsten Stapel, der offenbar als eine Art Beistelltisch diente, stand ein blauer Steingutbecher. Es sah aus,
als sei jemand hier jäh beim Teetrinken unterbrochen worden, doch als Gemma den Becher näher betrachtete, sah sie, dass er leer und makellos sauber war.
Als sie sich wieder aufrichtete, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in dem großen goldgerahmten Spiegel über dem Kamin. Sie steckte sich eine Strähne ihres Haars, das sie inzwischen wieder lang wachsen ließ, hinters Ohr und sah, dass sie etwas von dem Staub von der alten Zeitung auf die Nase bekommen hatte. In Ermangelung eines Taschentuchs wischte sie den Fleck mit dem Handrücken weg, während sie die Gegenstände auf dem Kaminsims näher betrachtete. Ein gesprungenes Kännchen aus cremefarbenem Steingut. Eine gerahmte Kinderzeichnung mit roten Strichmännchen unter gelben Wolken. Ein Border-Collie aus Porzellan, dessen Gesichtsausdruck so natürlich wirkte, dass sie beinah die Hand ausstreckte, um ihn zu streicheln.
Fotos gab es keine.
Das Esszimmer zeigte die gleiche Mischung aus Schlichtheit und einem leicht exzentrischen Touch - die Stühle um den imposanten runden Esstisch herum waren bunt zusammengewürfelt, die Stuhlpolster mit verschiedenen Stoffen bezogen. Hier standen auf dem Sims der Wandverkleidung vergilbte Ölgemälde, Porträts von Männern mit Perücken und herausgeputzten Frauen, alle mit den weichen, androgynen Gesichtszügen, die Gemma mit der Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts in Verbindung brachte. Auch hier steckten Kerzen in einem Kronleuchter und in Wandleuchtern. Aber das Zimmer sah aus, als würde es wenig benutzt, und Gemma konnte sich vorstellen, dass es umständlich war, die Teller und Schüsseln aus der Küche heraufzutragen.
Sie atmete durch. Dann also nach oben. Am ersten Treppenabsatz sah sie aus dem Fenster. Die Dämmerung brach schon herein, und die ersten Neonreklamen der Curryrestaurants
in der Brick Lane durchschnitten den dunklen Schatten der Christ Church wie Lichtschwerter. Im ersten Stock angelangt, tastete Gemma im Dunkeln umher, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte.
Das Elternschlafzimmer ging auf die Straße hinaus. Es hatte fast etwas Klösterliches - schlichte weiße Rollos an den Fenstern, eine weiße Steppdecke auf einem Bett aus dunklem Holz mit Schnitzereien. Aber auch hier war die Wandverkleidung der Blickfang: An Haken waren Halsketten und Perlenschnüre drapiert, auf dem Sims darüber waren winzige Blumenvasen arrangiert, deren Farbe wie Juwelen glitzerte. Auf einer alten Frisierkommode mit blindem Spiegel standen antike Parfumflakons inmitten eines Durcheinanders von Ohrgehängen, einem reich verzierten, aber beschlagenen Handspiegel mit versilbertem Rahmen und einem Lippenstift. Über dem Stuhl vor der Frisierkommode hing ein Morgenmantel aus Sari-Seide.
Der moderne Einbauschrank, der eine Wand des Zimmers einnahm, enthielt auf der einen Seite Männerkleider, hauptsächlich Anzüge, dazu ein paar Freizeithemden und -hosen.
Parfumduft wehte ihr entgegen, als sie die Tür auf der anderen Seite öffnete - eine würzige, aber dennoch blumige Note, die Gemma nicht recht einordnen konnte.
Hier hingen keine Business-Kostüme. Kleider, Blusen, Röcke, viele davon dem Anschein nach Vintage-Modelle. Ein geraffter Unterrock, kanariengelb. Gefaltete Pullover. T-Shirts. Jeans. Stiefel und Flip-Flops und einige wenige Paare sehr hoher High Heels.
Das Gefühl, nicht allein zu sein, war plötzlich so stark, dass Gemma die Schranktüren zuschlug. Sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte.
Als Nächstes kam Charlottes Zimmer. Ein eisernes Bettgestell, weiß gestrichen. Eine Ponylampe. Eine rosa Kommode, die Alia, wie Gemma vermutete, hastig durchwühlt hatte, denn
die Kleidungsstücke eines kleinen Mädchens quollen aus den offenen Schubladen hervor wie Wasser
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