Wenn Die Wahrheit Stirbt
aus den Schalen eines Stufenbrunnens. Und dann sah sie das Foto auf dem Nachttisch.
Sandra. Charlottes Mutter. Die gleichen Korkenzieherlocken, allerdings blond. Ein waches, intelligentes Gesicht; hübsch, aber nicht übertrieben schön. Sie blickte direkt in die Kamera, die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln geformt. Dies, dachte Gemma, war das Gesicht einer Frau, die sich mit der Welt um sie herum auseinandersetzte, nicht das einer Frau, die der Welt den Rücken gekehrt hatte.
Gemma ging hinaus und stieg die Stufen zum nächsten Stockwerk hinauf. Hier war das Geländer schlichter, die Stufen schmaler. Sie näherte sich jetzt dem ehemaligen Dienstbotenbereich. Diesmal sah sie zuerst in das hintere Zimmer, ein Gästezimmer mit einem schlichten Doppelbett.
Das Vorderzimmer war als Büro eingerichtet - eindeutig ein männlicher Bereich, eindeutig von einem Juristen benutzt. Ein schwerer Schreibtisch. Vitrinen voller ledergebundener Folianten. Eine Schreibtischlampe mit grünem Schirm. Auf der Schreibunterlage waren Papiere verstreut, doch mit einem kurzen Blick konnte sie sich vergewissern, dass es sich nur um juristische Dokumente und einen Schreibblock mit Notizen - offenbar zu einem aktuellen Fall - handelte. Eine Adressenkartei oder einen Kalender konnte sie nicht entdecken. Auf dem Tisch stand ein Laptop, doch er war geschlossen, und sie fand, dass es ihr nicht zustand, ihn zu öffnen.
Sie ging zurück zur Treppe und stieg weiter nach oben. Von unten drang gerade so viel Licht herauf, dass sie erkennen konnte, wo sie war - nicht in einem Flur, sondern in einem großen, offenen Raum. Sie tastete nach einem Schalter und fand ihn. Als es hell wurde, hauchte Gemma unwillkürlich ein leises »Oh!«.
Das Obergeschoss war tatsächlich ein Speicher, aber genutzt
wurde er als Atelier. An den Fenstern waren keine Vorhänge, und die zahllosen Scheiben warfen farbige Reflexe in den Raum zurück. Und Farbe gab es im Überfluss, eingefangen in den warmen Lichtinseln der schlichten kegelförmigen Lampen, die von der Decke herabhingen.
Gemma brauchte einen Moment, um ihre Eindrücke zu ordnen. Die Mitte des Raumes wurde von einem großen Arbeitstisch eingenommen, dessen eine Seite mit Stofffetzen und losen Blättern mit Bleistiftskizzen übersät war. Auf der anderen Seite lag ein quadratischer Holzrahmen von gut einem Meter Seitenfläche, bespannt mit Musselin. Die Fläche war zum Teil mit Stoffstücken bedeckt, andere Stellen waren leer oder ließen leichte Bleistiftstriche erkennen.
Eine Collage also. Unvollendet, abstrakt, und doch konnte man mit etwas Fantasie bunte, weite Frauenkleider vor dunklen Backsteinmauern erkennen. Dazu goldfarbene Schnüre, die Gemma an glockenförmige Vogelkäfige erinnerten. Doch es waren keine Vögel, die durch die Gitterstäbe spähten, sondern Frauengesichter, ihre Züge verstörend undeutlich.
Seltsam berührt wandte Gemma sich ab und inspizierte den Rest des Ateliers. Überall standen Körbe mit Stoffen in allen Farben und Qualitäten, manche bis zum Überquellen gefüllt.
An einer Schmalseite des Raums stand ein Holzregal mit quadratischen Fächern, die kleinere, zusammengefaltete Stoffproben enthielten; am anderen Ende ein einfacher weißer Schreibtisch. Darüber hing ein Gemälde, das ein rotes Pferd darstellte. Auf dem Schreibtisch lagen weitere Skizzen und Notizbücher, ein Durcheinander von Zetteln sowie das übliche Sortiment von Kugelschreibern, Bleistiften und Gummis. Gemma streckte schon die Hand aus und zog sie dann zurück. Sie hatte sorgsam darauf geachtet, außer den Lichtschaltern nichts zu berühren und keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und wiederum hatte sie das Gefühl, dass sie eine Grenze überschreiten würde.
Sie drehte sich noch einmal um, diesmal zur hinteren Wand. Sie war mit Korkplatten verkleidet und über und über mit Zeichnungen behängt, von Sandra wie auch von Charlotte, und - wie Gemma erfreut feststellte - mit Fotos. Deshalb also waren im Rest des Hauses keine ordentlich gerahmten Studioaufnahmen der Familie zu finden. Die Fotos waren hier: Schnappschüsse vom Alltag einer Familie, kreuz und quer und übereinander an die Wand gepinnt.
Es gab mehr Bilder von Naz und Charlotte als von Sandra, was darauf hindeutete, dass hauptsächlich Sandra fotografiert hatte. Gemma betrachtete ein Foto von Naz mit Charlotte auf dem Schoß; sie erkannte das Küchensofa wieder, auf dem er saß.
Tim hatte ihr eine Beschreibung geliefert: Nasir Malik, vierzig
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