Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
Frage, was du dagegen zu tun gedenkst«, meinte Mountjoy zu Pursuivants großer Überraschung.
»Ich, Sir?« Pursuivant begriff sofort, daß er sowieso wieder alles versauen würde. »Ich meine, Sir …«
»Ja, Soldat, du!« Eine Weile stand Mountjoy völlig regungslos da und sah fast wie eine nachdenkliche Stehlampe aus. Erst als die Tür geöffnet wurde und White Herald hereinkam, entspannte er sich wieder ein wenig.
White Herald humpelte – weil höchstwahrscheinlich wieder einmal die Schienbeine in der Größe 63 E ausgegangen waren – und hielt einen Zettel in der Hand.
»Dieses Fax hier ist gerade eingetroffen, Sir. Unterzeichnet mit F.A.O. stellvertretender Generalma-nager. Ich hielt es für angebracht, es Ihnen lieber sofort zu zeigen.«
Mountjoy riß ihm griesgrämig den Zettel aus der Hand. Kurz darauf fabrizierte er irgendwo tief im 349
Rachen einen unangenehmen Laut, ein bedrohliches Kreisehen, ähnlich dem Geräusch einer an einem Kantstein entlangschabenden Radkappe.
»Jetzt sieh dir selbst an, was du angerichtet hast!«
polterte er los. »Das hier ist von de Nesle!«
»Sir?«
»Hör endlich auf damit, immer so dämlich ›Sir‹ zu sagen. Er behauptet, alle anderen überwältigt und in sein Verlies gesteckt zu haben.« Mountjoy seufzte.
»Tja, da haben wir ein ganz schönes Problem am Hals, wie?«
»Ja, Sir.«
»Ja, Sir … Und es hat bestimmt nicht viel Zweck, dich loszuschicken, um sie da wieder rauszuholen, oder was meinst du?«
»Nein, Sir. Ähm … ja, Sir.«
»Nein, Sir! Ja, Sir! Weil du gar nicht weißt, wo du suchen müßtest, nicht wahr? Und wenn doch, dann wärst du immer noch viel zu unfähig, um … Was ist denn?«
Pursuivant hütete sich davor, sich umzudrehen.
Aufgrund der obskuren und komplizierten Verhaltensregeln, denen die Wachmannschaft des els unterlag, wurde das sich Umdrehen in Gegenwart eines Vorgesetzten auf verschiedene, geschickt ausgetüf-telte Arten bestraft – fast immer gehörte dazu, daß die betreffenden Übeltäter untereinander einige ihrer Bauelemente austauschen mußten. Als der Neuan-kömmling zu sprechen begann, erkannte Pursuivant jedoch sofort die Stimme des Kerkermeisters.
350
»Tut mir leid, wenn ich Sie störe, Boß, aber ich dachte, Sie sollten es wissen«, sagte der Kerkermeister. »Ich habe eben gerade meinen Rundgang gemacht, als mir auffiel, daß in Zelle neunundfünfzig zwei neue Gefangene sind.«
Mountjoys Miene verfinsterte sich. »Zwei neue Gefangene?«
»Ja, Boß.«
»Du meinst, jemand ist ins Gefängnis eingebro-chen?«
»Sieht ganz so aus, Boß.«
Der Hofgeistliche runzelte angestrengt die Stirn und rief so an der Decke interessante kaleidoskop-
ähnliche Lichteffekte hervor. »Zelle neunundfünfzig?
Bist du dir ganz sicher?«
»Ja, Boß.«
»Nun, dann sollten wir uns die Sache lieber mal genauer ansehen.«
In die Musikgeschichte ging das Konzert als ein gro-
ßer Erfolg ein.
»Sein sprühender, ungekünstelter Gesang«, schrieb der Kritiker des Neuen Theosoziologen,
»verbindet sich auf extravagante Weise mit den un-geahnt detailreichen und dennoch klaren Leitmoti-ven, die häufig in einen mitreißenden Antagonismus aus Text und Instrumentierung münden, der seine endgültige Apotheose in der semikathartischen Kul-mination von Neue Dean findet.
De Nesle baut weiterhin auf die feste Grundlage 351
seiner früheren Leidenschaft für das Neostrukturelle; und wenn es ihm gelingt, den trügerischen Verloc-kungen des nur Schönen zu widerstehen, dann ist er der lebende Beweis dafür, daß solche musikalischen Meisterwerke keine Zufallsprodukte sind.«
Nach Blondels Auffassung hatte es sich bei dem Konzert um nicht viel mehr als um einen gemütlichen gemeinsamen Liederabend gehandelt. Zwar freute es ihn noch immer, daß das Publikum voller Inbrunst die letzte Strophe von L’Amours Dont Sui Epris mitgesungen hatte, doch jetzt brauchte er erst einmal dringend eine Dusche und einen Becher heiße Milch.
Deshalb war er um so saurer, die Garderobe leer und völlig unaufgeräumt vorzufinden. Durchwühlt wäre wohl der bessere Ausdruck gewesen. Es sah wie in einem Heuhaufen aus, in dem es jemand schließlich geschafft hatte, eine Stecknadel zu finden.
»Mmmmmmmmmmm«, grummelte jemand in einem der beiden Kleiderschränke. Ein Schrank führte direkt in die Vergangenheit, in die Zukunft und in eine erlesene Auswahl der Gegenwart. Das Problem daran war, daß es zu keinem bestimmten Zeitpunkt die Möglichkeit gab
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