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Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Titel: Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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nicht?«
    stellte Blondel erleichtert fest.
    Guy zog verdutzt die Augenbrauen hoch. »Glück nennst du das?«
    »Sicher«, bekräftigte Blondel, wobei er dem Hirsch sanft das Maul streichelte. »Schließlich läuft einem in Wandsworth nicht jeden Tag ein verzauberter Hirsch über den Weg.«
    »Sind wir etwa in Wandsworth? Das ist doch ein Stadtteil von London«, staunte Guy.
    »Richtig.«
    »Ich habe eine Tante, die wohnt hier in …«
    »Wird hier wohnen«, korrigierte ihn Blondel.
    »Wir müßten uns jetzt am Ende des vierzehnten Jahrhunderts befinden, es sei denn, mein Kalender hat wieder mal vorzeitig angehalten.«
    »Ach so, ich verstehe.« Guy fühlte sich plötzlich erbärmlich.
    »Dahinten grassiert gerade der Schwarze Tod, und die Bauern revoltieren. Mit einem verzauberten Hirsch verschafft man sich immerhin einen kleinen Vorteil, oder was meinst du?«
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    »Sicher«, stimmte Guy ihm zu, obwohl es ihm unter den gegebenen Umständen viel lieber gewesen wäre, ein Maschinengewehr und ein paar Liter Peni-zillin bei sich zu haben. Trotzdem war er innerlich dazu bereit, sich an jedem Strohhalm festzuhalten, der ihm angeboten wurde. »Ah, was machen wir eigentlich als nächstes?«
    »Paß mal genau auf«, antwortete Blondel geheim-nisvoll und forderte dann den Hirsch auf: »Nun beweg dich schon, Junge.«
    Der Hirsch drehte sich um, blickte Blondel verdutzt an und sagte: »Mein Name ist Cerf le Blanc.«
    Er hatte dies ohne jede Gemütsregung und ohne Lip-penbewegung gesagt. Das, so meinte Guy, schlug dem Faß endgültig den Boden aus.
    »Wohin willst du denn so schnell?« rief Blondel ihm hinterher.
    »Tschüs, und vielen Dank für alles!« rief Guy zu-rück.
    »Keine Ursache. Aber paß auf, wo du hinrennst, und vergiß die Wölfe nicht!«
    Plötzlich tauchte Guys Kopf im Höhleneingang wieder auf. »Wölfe?«
    »Ja. Soweit ich weiß, waren Wölfe im England des vierzehnten Jahrhunderts durchaus an der Tagesord-nung. Allerdings bin ich mir da nicht ganz sicher.«
    »Trotzdem halte ich es für besser, wenn ich bei dir bleibe«, merkte Guy kleinlaut an, dann flüsterte er:
    »Sag mal, hat das Vieh etwa vor, noch mehr zu reden?«
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    »Mir wäre das nicht mal unrecht«, antwortete Blondel. »Ich glaube nicht, daß der Hirsch uns etwas antun will, du etwa?«
    »Nein.«
    »Da, siehst du? Jetzt hör’s dir mal aus seinem eigenen Munde an.«
    »Ich habe noch nie jemandem etwas mutwillig antun wollen«, sagte Cerf le Blanc. »Obwohl manchmal … aber dann ist das immer nur durch unglückliche Umstände geschehen. Jedenfalls was mich betrifft.«
    Blondel gab dem Hirsch einen aufmunternden Klaps.
    »Das geht schon in Ordnung, mein Freund. Du kriegst noch etwas türkischen Honig, und dann laß uns losgehen.« Aus der Gürteltasche holte er einen rosafarbenen Würfel hervor, an dem noch etliche Fusseln klebten, doch den Hirsch schien das nicht zu stören. Als er zu Ende gekaut hatte, hob der Hirsch den Kopf, und die Lichter an seinem Geweih ver-dunkelten sich allmählich, bis sie nur noch unauffällig glühten. Dann ging er den beiden voran.
    Pursuivant rieb sich die Augen und gähnte.
    Ungefähr um diese Uhrzeit pflegten die Kameraden der Nachtwache im Chastel des Larmes Chaudes ein paar Dosen zu öffnen und geröstete Erdnüsse herumzureichen. Montags, mittwochs und freitags spielten sie dort Poker. Wenn die Alarmglocke klingelte, mußten sie das Spiel natürlich unterbrechen 91
    und darauf reagieren, aber irgendwie läutete es in letzter Zeit nicht mehr und zwar genau seit dem Zeitpunkt, an dem Clarenceaux zwischen Klöppel und Glocke einen Bierdeckel geklemmt hatte.
    Obwohl die vorgeschriebenen Windhemden wasserdicht sein sollten, hatte Pursuivant die Erfahrung gemacht, daß es etliche undichte Stellen gab, durch die Wasser eindringen konnte, genauso wie es seine Sandwiches und Gummistiefel durchnäßt hatte. Eigentlich hätte er auch einen Schirm bei sich haben müssen, doch den hatte sich Mordaunt Dragon of Arms unter den Nagel gerissen, als er zum Fischen gegangen war. Die einzige gewachste Baumwolljac-ke in der Abteilung gehörte White Herald; aber in Anbetracht seiner persönlichen Angewohnheiten er-wägte niemand ernsthaft, sie tragen zu wollen, selbst wenn sie ihm von White Herald angeboten worden wäre, was ohnehin nicht der Fall war.
    Pursuivant wischte sich fröstelnd den Regen von der Nase. Außerdem hatten sich die Kameraden für heute abend einen Videofilm ausgeliehen.
    Er krempelte den Ärmel zurück und

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