Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
blickte auf die Uhr, allerdings mußte er sich erst einmal die Feuchtigkeit von den Augen wischen, um das Zifferblatt erkennen zu können. Um sechs Uhr sollte er abgelöst werden, doch bis dahin mußte er noch etliche Runden zurücklegen, die ausreichen dürften, um sich ei-ne Lungenentzündung zu holen. Jedenfalls gab es mittlerweile eine ganze Reihe von Verbrechen, die er für eine heiße Tasse Tee begangen hätte.
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Draußen in der Dunkelheit flackerte in weiter Ferne ein schwaches weißes Licht. Pursuivant rieb sich die Augen und sah erneut nach. Dann griff er nach dem Fernglas, putzte die Linsen trocken und spähte hindurch. Das Licht war nicht mehr da; anscheinend hatte er sich alles nur eingebildet.
Nein, er hatte sich nichts eingebildet; da war eindeutig ein weißes Licht zu sehen. Mit klammen Fingern stellte er das Fernglas ein und erkannte zwei völlig durchnäßte Männer, die ein Pferd und einen wei-
ßen Hirsch am Halfter führten, dessen Geweih das Licht hervorrief. Zwar waren sie noch weit entfernt, doch kamen sie in seine Richtung. Kichernd drehte Pursuivant an der Kurbel des Feldtelefons. Es klingelte und klingelte, doch niemand hob ab. Kein Wunder, schließlich hatte irgendein Witzbold zwischen Klöppel und Glocke einen Bierdeckel geklemmt.
»Verdammte Scheiße!« fluchte Pursuivant leise vor sich hin.
Was sollte er tun? Nun, da half alles nichts, er mußte es selbst erledigen. Während er den Rest seiner Abteilung verfluchte, tastete er nach dem Schild (silberne Papstkrone auf schwarzem Feld; rote, seitenverkehrt gekreuzte Schlüssel, eingefaßt vom Halbmond) und dem Griff der Pike, in deren Schaft lange rostige Nägel geschlagen waren. Ritterlichkeit war dem Stab des Chastel des Larmes Chaudes durchaus kein unbekannter Begriff, doch machte man dort nicht viel Aufhebens darum.
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Guy kam sich äußerst dämlich vor, als er den Revolver wieder ins Halfter steckte und zögernd hinter dem Pferd hervortrat.
»Ist er wohlauf?« erkundigte er sich.
Blondel blickte auf den Körper zu seinen Füßen.
»Wenn er das wäre, dann hätte ich eben sinnlos meine Zeit vergeudet. Ach, übrigens vielen Dank für deine Hilfe; war bestimmt gutgemeint.« Er steckte einen Finger durch das Einschußloch in seinem Hut und drehte den Hut einige Male herum.
»Wie ich dir schon gesagt habe, kann ich im Dunkeln nicht sonderlich gut sehen«, entschuldigte sich Guy kleinlaut.
»Schon gut, schließlich kommt es nur auf die Absicht an«, beruhigte ihn Blondel, versetzte dem Körper einen leichten Tritt und setzte sich wieder den Hut auf. »Mach dir um ihn keine Sorgen, morgen ist er wieder kerngesund.«
»Waren das Wegelagerer?« fragte Guy.
»Wegelagerer kannst du vergessen«, antwortete Blondel. »Siehst du den Schild? Eine silberne Mi-tra auf schwarzem Feld und ein auf dem Kopf stehendes Schlüsselbund? Nein, wenn das Wegelagerer gewesen wären, würde ich mir Sorgen machen.« Er drehte sich um und stand nun, die Hände in die Hüften gestemmt, vor dem weißen Hirsch.
»Ich denke, wir beide sollten uns ein wenig unterhalten.«
Der Hirsch blickte ihn verdutzt an, als wollte er ihm mitteilen, daß Rotwild der menschlichen Spra-94
che nicht mächtig sei. Der Kehlkopf, sagten die Augen des Hirschs, habe dazu die falsche Form.
»Es sei denn, du willst nicht sprechen«, fuhr Blondel fort. »Allerdings solltest du wissen, daß Wildfri-kadellen zu den Lieblingsgerichten von mir und meinem Freund hier zählen. Capisce?«
Der Hirsch schnaufte schwer durch die Nase.
»Ich zähle bis fünf«, warnte ihn Blondel. »Eins …«
»Also gut«, gab der Hirsch klein bei, ohne das Maul zu bewegen (der Kehlkopf eines Hirschs ist nämlich tatsächlich nicht dazu in der Lage, menschliche Laute zu bilden). »Es besteht kein Grund zu überstürzten Handlungen. Ich habe nur meine Pflicht getan.«
Blondel lächelte. »Ach, und worin besteht die?«
Im Hintergrund räusperte sich Guy. »Entschuldigung, wenn ich dich …«
Blondel drehte sich brüsk um. »Was ist denn?«
fragte er Guy.
»Hast du was dagegen, wenn ich mal eine Zigarette rauche? Diese ganze Aufregung und all das …«
»Mach schon«, zischte Blondel ihn an, dann wandte er sich wieder dem Hirsch zu. »Erzähl, was ist denn nun deine Aufgabe?«
»Ich diene Seiner Exzellenz Julius dem Dreiundzwanzigsten«, grummelte der Hirsch. »Alles klar?«
»Ja, ich weiß. Eine silberne Krone auf schwarzem Feld und dieser ganze andere Blödsinn. Hat man dir den Befehl gegeben,
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